Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Opfer von Morddelikten wurden, steigt. 2014, so zeigt die Auswertung des polizeilichen Sicherheitsberichts, waren unter den Opfern der von der Polizei angezeigten versuchten und vollendeten Morde vier unter 18 Jahre alt. Im Jahr 2019 waren es 24 – also sechsmal so viele.
Auch die Zahl der angezeigten Morde und Mordversuche an sich stieg, dadurch ebenso die Zahl der Opfer dieses Deliktes. 2014 waren das in allen Altersklassen gesamt 110 Personen, 2019 waren es 275. Doch auch in Relation zur Gesamtzahl stieg somit der Anteil der Jungen von knapp vier auf über acht Prozent.
Eine ebenso bedenkliche Entwicklung ist das Geschlechterverhältnis unter den Mordopfern. Denn: Jedes Jahr werden in Österreich mehr Frauen als Männer umgebracht. Wurden im Jahr 2014 österreichweit 19 Frauen getötet, so verdoppelte sich diese Zahl bis 2019 auf 39. Heuer starben nach Zählung der Autonomen Frauenhäuser bisher 15 Frauen durch Fremdeinwirkung. Ob all diese Fälle Morde waren, müssen erst Gerichte klären.
Die Häufung von Femiziden führte zuletzt zu einem – auch durchaus kritisierten – Gewaltschutzpaket. Inwiefern stärkt dieses auch Kinder und junge Frauen? Und: Was fordern Opferorganisationen, um junge Menschen besser vor Gewalt zu schützen?
Versorgung schon vor der Geburt
Dunja Gharwal von der Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien sagt, das müsste so früh wie möglich beginnen, nämlich schon vor der Geburt. Das Konzept der "frühen Hilfe" sieht das vor: Werdende Eltern werden kontaktiert und "damit vertraut gemacht, dass bei Bedarf ein Helfersystem zur Verfügung steht", sagt Gharwal – egal ob es um innerfamiliäre oder außerfamiliäre Gewalt gehe. Das Konzept entstand 2006 in Deutschland nach schweren Kindesmisshandlungsfällen und ist dort seit 2012 gesetzlich verankert. In Wien etwa gibt es nur ein Netzwerk, das lediglich den Westen der Stadt abdeckt, in Niederösterreich werden elf von 20 Bezirken betreut.
"Unsere Vision wäre es", sagt Gharwal, dass es von der frühen Hilfe bis zur Volljährigkeit eine Begleitung "und einen gelungenen Übergang in die Erwachsenenversorgung" gebe, momentan seien diese Schnittstellen prekär. Durch das jüngste Gewaltschutzpaket soll auch mehr Geld in die Täterarbeit fließen, das sei laut Gharwal allerdings nur ein "Tropfen auf den heißen Stein. Der Bedarf ist schwerlich abdeckbar." Und auch auf Opferseite sei der Bedarf höher als die finanziellen Mittel, "das ist noch nicht zu Ende gedacht", sagt Gharwal.
Ausbildung reformieren
Hedwig Wölfl, Geschäftsführerin der Kinderschutzorganisation Die Möwe, weiß, dass gerade die Altersgruppe um 14 Jahre schwer zu erreichen ist. Man versucht eigenständig zu werden, sich von daheim und den Eltern abzunabeln. "Ein gewisses Risikoverhalten gehört zu diesem Alter dazu", sagt Wölfl. Umso wichtiger sei es, "dass man die Kinder und Jugendlichen in ihren Interessen und Sorgen ernst nimmt und niederschwellige Angebote setzt".
Damit das gelingt, braucht es ordentliche Rahmenbedingungen. Die Corona-Krise zeige laut Wölfl, wie schlecht es den Jugendlichen ging, als das soziale Leben abgedreht wurde. "Die Jugendzentren hatten durch die Pandemie hohe Auflagen und waren für die Jugendlichen schwer zu erreichen, die Psychiatrien sind überfüllt, die Therapieplätze sind voll, gerade hier braucht mehr Plätze, die kurzfristig verfügbar sind", sagt sie. Notwendig sei auch ein Mehr an sozialarbeiterischer und psychologischer Unterstützung im direkten Lebensraum der Jungen. Es gebe nach wie vor zu wenige Schulpsychologen, die sie regelmäßig besuchen könnten, erklärt Wölfl.
Laut Wölfl müssen Gewalt und Missbrauch an Kindern und Jugendlichen mehr in die Öffentlichkeitarbeit des Staates Einzug finden, um die Gesellschaft zu sensibilisieren – wie in Skandinavien. Aber auch die Ausbildung von Sozialarbeiterinnen, Pädagoginnen und Psychologinnen müsse verändert werden. "In Österreich sind Kinderrechte und Kinderschutz bis heute kein verpflichtender Teil dieser Ausbildungen." (Jan Michael Marchart, Gabriele Scherndl, 28.6.2021)