2010 sorgte die Sequenzierung von DNA aus urzeitlichen Menschenknochen für weltweites Aufsehen: Wie sich zeigen sollte, handelte es sich bei den aus der Denisova-Höhle im sibirischen Altai-Gebirge stammenden Funden um Überreste einer dem anatomisch modernen Menschen nahestehenden, bis dahin unbekannten Homo-Linie. Ein vor fast 90 Jahren in der Provinz Heilongjiang im Osten Chinas entdeckter Totenschädel hat nun das Zeug dazu, die ohnehin schon komplexe und in etlichen Details umstrittene Abstammungsgeschichte des modernen Menschen erneut umzuschreiben.

Ein Schädelfund, der den Stammbaum der Gattung Homo wieder einmal durcheinander bringen könnte.
Fotos/Illustr.: Xijun Ni/Chuang Zhao

Jahrzehnte im Brunnen

Das als Harbin-Schädel bekannt gewordene Fossil zeichnet sich nicht nur durch seine ungewöhnliche Größe aus, sondern blickt auch auf eine reichlich abenteuerliche Entdeckungsgeschichte zurück, wenn man den Berichten aus China glauben schenken darf: Ein chinesischer Arbeiter, der für die damaligen japanischen Besatzungstruppen am Bau der Dongjiang-Brücke über den Fluss Songhua in der Stadt Harbin beteiligt war, soll 1933 am Flussufer zufällig über den Schädel gestolpert sein.

Der Mann erkannte, dass ihm etwas Besonderes in die Hände gefallen war und verbarg seinen Fund vor den Japanern in einem Brunnen. Jahrzehnte später verriet er das Geheimnis seinen Enkeln, die den Schädel 2018 schließlich bergen und Mitarbeitern der Hebei GEO University zum Studium überließen.

"Drachenmann" aus Long Jiang

Welche Bedeutung der Schädel für die evolutionäre Anthropologie tatsächlich haben könnte, dürften der ursprüngliche Finder und seine Nachkommen dann wohl doch nicht geahnt haben. Die in den vergangenen Jahren durchgeführten Untersuchungen ergaben nach Ansicht der beteiligten Wissenschafter nämlich nicht weniger als eine veritable Sensation: Das nahezu perfekt erhaltene menschliche Fossil soll demnach einer bislang unbekannten Homo-Linie angehören – womöglich sogar einer, die dem modernen Menschen näher steht als jene unseres bisherigen nächsten Verwandten, des Neandertalers.

In den nun dazu veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten erhielt die Spezies den Namen Homo longi, was wörtlich übersetzt "Drachenmensch" bedeutet. Die Bezeichnung leitet sich vom geografischen Namen Long Jiang für die Provinz des Fundorts ab.

Ein Sensationsfund aus China deutet auf eine neue Menschenart hin: Homo longi.
Illustr.: Chuang Zhao

"Das Harbin-Fossil ist eines der vollständigsten menschlichen Schädelfossilien der Welt", erklärte Qiang Ji, Paläontologe an der Hebei GEO University und Hauptautor der drei im Fachjournal "The Innovation" erschienenen Studien. "Dieses Fossil besitzt viele morphologische Details, die für das Verständnis der Evolution der Gattung Homo und des Ursprungs von Homo sapiens entscheidend sein können."

Archaische und moderne Merkmale

Der massive Schädel konnte ein Gehirn aufnehmen, das größenmäßig jenem des modernen Menschen gleichkam. Seine Augenhöhlen sind jedoch deutlich größer und wirken beinahe quadratisch. Darüber wölben sich dicke Brauenwülste, in seinem breiten Mund stecken übergroße Zähne.

"Der Schädel von Harbin weist zwar typische archaische Merkmale auf, stellt insgesamt jedoch eine Kombination aus primitiven und moderneren Charakteristiken dar. Dieses Zusammenspiel von Eigenschaften hebt sich von allen anderen bekannten Angehörigen der Gattung Homo ab", sagt Ji. Aus diesem Grund habe er sich für eine eigenständige Artbezeichnung entschieden.

50-Jähriger hart im Nehmen

Die Wissenschafter schließen aus den Analysen, dass der Schädel von einem etwa 50 Jahre alten männlichen Individuum stammt, das in einer bewaldeten Auenlandschaft als Teil einer kleinen Gemeinschaft lebt. "Ebenso wie der Homo sapiens jagte Homo longi Säugetiere und Vögel, sammelte Obst und Gemüse und fing vielleicht sogar Fische", sagt Xijun Ni, Koautor und Professor für Primatologie und Paläoanthropologie an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften.

Angesichts des Fundortes, der Parallelen zu anderen archaischen Menschen im heutigen China und der Tatsache, dass das Harbin-Individuum wahrscheinlich ungewöhnlich groß war, vermuten die Forscher, dass Homo longi an raue Umweltbedingungen angepasst war. Dies könnte ihm die Ausbreitung in ganz Asien erleichtert haben.

Die Schädelreihe zeigt verschiedene in China entdeckte Menschenformen: Peking-Mensch, Maba-Mensch, Jinniushan-Mensch, Dali-Mensch und der Harbin-Mensch (von links).
Foto: Kai Geng

Anhand von geochemischen Analysen unter anderem von winzigen Anhaftungen von Erde datierte das Team das Harbin-Fossil auf mindestens 146.000 Jahre und ordnete es damit in das mittlere Pleistozän ein, eine Ära, in der sich die menschliche Spezies in viele Teile der Erde ausgebreitet hat. Die Wissenschafter vermuten daher, dass sich Homo sapiens und Homo longi begegnet sein könnten.

Begegnungen mit Homo sapiens

"Wir sehen in dieser Zeit mehrere evolutionäre Abstammungslinien innerhalb der Gattung Homo in Asien, Afrika und Europa. Wenn Homo sapiens also tatsächlich so früh nach Ostasien gelangte, könnte er eine Chance gehabt haben, mit Homo longi zu zusammenzutreffen. Und da wir nicht wissen, wann die Harbin-Gruppe verschwunden ist, könnte es auch spätere Begegnungen gegeben haben", sagt Chris Stringer, Koautor zweier der drei veröffentlichten Studien vom Nature History Museum in London.

Die Wissenschafter stellten in einer der Arbeiten eine weitere, vielleicht noch spektakulärere Hypothese auf: Homo longi könnte unser engster Verwandter innerhalb der Hominini-Gruppe sein und uns damit noch näher stehen als der Neandertaler. "Es wird allgemein angenommen, dass der Neandertaler zu einer ausgestorbenen Linie gehört, die unserer eigenen Art am nächsten kommt. Unsere Entdeckung weist jedoch darauf hin, dass die neue Linie, die wir identifiziert haben, die eigentliche Schwestergruppe von Homo sapiens ist", meint Ni.

Video: Virtuelle Rekonstruktion des "Drachenmenschen"-Schädels.
The Scientist

Die auf diesen Annahmen beruhende Rekonstruktion des menschlichen Lebensbaums legt darüber hinaus nahe, dass der gemeinsame Vorfahre, den wir mit den Neandertalern teilen, früher lebte als bisher gedacht. Die Aufspaltung in die Linie, die zum Homo sapiens führte, und jene, die den Neandertaler hervorbrachte, könnte nach dieser Theorie über eine Million Jahre zurückliegen, also rund 400.000 Jahre früher als vermutet.

Viele kritische Stimmen

Wie nicht anders zu erwarten, beurteilen viele westliche Fachkollegen die veröffentlichten Ergebnisse und ihre Interpretation durchaus skeptisch. John Hawks, ein Paläoanthropologe an der University of Wisconsin-Madison, erklärte etwa gegenüber dem "Guardian", die Idee einer neuen Menschenlinie sei "eine provokante Behauptung", da Schädel auch bei entfernten Verwandten ähnlich aussehen können. "Ich denke, es ist ein schlechter Zeitpunkt in der Wissenschaft, unter diesen Menschen, die sich alle miteinander gekreuzt haben, neue Arten zu benennen", meint er. "Wenn es darum ging, gemeinsame Nachkommen zu zeugen, maßen die damaligen Menschen einem unterschiedlichen Aussehen offenbar nicht viel Bedeutung bei."

Auch laut Jean-Jacques Hublin vom Max- Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig sei die Chance deutlich höher, dass der "Drachenmensch"-Schädel einem Wesen gehörte, das der Abstammungslinie der Denisova-Menschen (von dem bislang noch kein Schädel gefunden wurde) angehörte, wie er in der "Süddeutscher Zeitung" erklärte. So oder so bleibt die Rekonstruktion unseres Familienstammbaums jedenfalls ein spannendes Forschungsfeld. Vielleicht weisen künftige DNA-Analysen dem "Drachenmenschen" seinen endgültigen Platz zu. (Thomas Bergmayr, 28.6.2021)