"Autoritäre Demokratien" solle der Westen respektieren, schreibt Sergej Lawrow.

Foto: EPA / Russian Foreign Ministry

In einem Programmartikel hat der russische Topdiplomat Sergej Lawrow einmal mehr eine Generalabrechnung mit dem Westen vollzogen. Aktueller Aufhänger war das Treffen zwischen US-Präsident Joe Biden und seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin Mitte Juni, das zunächst vorsichtig optimistisch in Moskau bewertet wurde.

Putin hatte in seiner separaten Abschlusspressekonferenz den "offenen und konstruktiven Dialog" gelobt und Absprachen zur Rüstungskontrolle und strategischen Sicherheit hervorgehoben. Moskau sah sich wieder auf "Augenhöhe" mit Washington. Immerhin hatte auch Biden in seiner Pressekonferenz eingeräumt, dass es beim Gipfel "um Interessen und die Überprüfung eigener Interessen" gegangen sei.

Lawrow bemängelte nun, dass ebendiese "Balance der Interessen" weiterhin negiert werde. "Praktisch gleich nach dem Abschluss (des Gipfels, Anm.) haben US-Offizielle, darunter auch Mitglieder des Genfer Treffens, schneidig die alten Einstellungen ausgestrahlt, nach dem Motto: Wir haben Moskau auf seinen Platz verwiesen, klar gewarnt und Forderungen erhoben", ärgerte sich der 71-Jährige.

Verkrustete Positionen

Statt eines Dialogs beharre Washington auf seiner "verkrusteten Position", dass es bereit sei, das Verhältnis zu Moskau zu normalisieren, aber erst nachdem Russland sich geändert habe. Geknüpft seien diese Forderungen an Sanktionsdrohungen, schrieb Lawrow. Diese Äußerungen widersprechen seiner Ansicht nach dem Geist der Vereinbarungen, deren Umsetzung im Bereich der strategischen Sicherheit er zudem ebenfalls mit abwartender Skepsis begegnet.

Der russische Außenminister wehrte Kritik an der Einmischung Russlands in der Ukraine und anderswo mit der im Kreml oft wiederholten These ab, dass die "aggressive Politik", die Moskau vorgeworfen werde, eigentlich nur "die Bekämpfung ultraradikaler und neonazistischer Tendenzen in der Politik der Nachbarländer" sei. Dem Westen gefalle zudem nicht, dass Russland Länder (sprich: Syrien) unterstütze, die zuvor durch westliche Einmischung ins Chaos oder unter den Einfluss von Terroristen geraten seien.

Menschenrechte unterscheiden sich, sagt Russland

Lawrows grundlegende Kritik am Westen ist ohnehin dessen Beharren auf Menschenrechten und demokratischen Regeln auch in anderen Ländern geschuldet. Diese "Regeln" stellten letztendlich eine Einmischung in die Souveränität anderer Staaten dar und dürften nicht als Ersatz für das internationale Völkerrecht dienen, mahnte er.

Verschiedene Völker hätten eben verschiedene Traditionen und Werte und damit auch ein unterschiedliches Verständnis zu Menschenrechten, argumentierte Lawrow. Statt einer ideologisch-moralischen Wertung sei ein "Vergleich des Instrumentariums" nötig, welches die einzelnen Regierungsformen böten, um reale Krisen zu bekämpfen. Dabei sieht er autokratische Staaten – der Minister selbst führt dafür den Begriff "autokratische Demokratien" ein – gut aufgestellt.

Russland jedenfalls werde keine einseitigen Zugeständnisse mehr machen. Der Kurs auf Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber dem Westen werde von der breiten Masse des Volkes getragen, erklärte Lawrow. Die innenpolitischen Einlassungen des Ministers sind auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass Lawrow bei der Duma-Wahl im Herbst ins Führungsquintett der Kreml-Partei Einiges Russland berufen wurde, obwohl er selbst kein Parteimitglied ist. Die Wahl, die schon im Vorfeld von einer beispiellosen Verbotskampagne gegen oppositionelle Kandidaten und Parteien begleitet ist, gilt als wichtig, um die neue Verfassung abzusichern, die Putin zwei weitere Amtszeiten ermöglicht. (André Ballin aus Moskau, 28.6.2021)