Wegen des Urteils in Deutschland könnten nun auch in Österreich Klagen von 24-Stunden-Betreuerinnen folgen.

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Zwischen 65 und 80 Euro pro Tag, zwei bis drei Euro pro geleistete Stunde: Wie wenig 24-Stunden-Betreuerinnen in Österreich verdienen, ist längst bekannt. Obwohl sie im Vorjahr plötzlich das Attribut "systemrelevant" erhielten, mit Sonderzügen und -fliegern Corona-bedingt eingeflogen wurden: Geändert hatte sich an ihren prekären Arbeitsbedingungen bislang nichts. Das könnte nun anstehen: Auf die Klage einer bulgarischen Betreuerin in Berlin hin hielt das deutsche Bundesarbeitsgericht fest, dass ihr der gesetzliche Mindestlohn zusteht – auch in der Bereitschaftszeit.

Die Reaktionen, die auf das Urteil folgten, zeugen davon, wie sehr das System in seiner jetzigen Form ins Wanken gerät: Deutsche Sozialverbände begrüßen auf der einen Seite das Urteil, warnen allerdings vor einem "Kostenexplosion". Nach einer Schätzung arbeiten zwischen 300.000 und 600.000 24-Stunden-Betreuerinnen in Deutschland – die meisten, wie im Falle der Bulgarin, sind für weniger Stunden angestellt, als sie eigentlich erbringen. Würden all diese Betreuungskräfte nach arbeitsrechtlichen Standards entlohnt werden, so die Befürchtung der Sozialverbände, würde das die Pflege in den vier Wänden unleistbar machen.

Österreichisches Urteil ignoriert

In Österreich pflegen rund 60.000 Betreuerinnen, vornehmlich aus Rumänien, Bulgarien und der Slowakei, rund um die Uhr 30.000 Seniorinnen und Senioren. Welche Folgen könnte das deutsche Urteil für sie und das österreichische Pflegesystem haben? "Es gibt bereits ein vergleichbares Urteil des Obersten Gerichtshofs aus 2011", sagte Sozialrechtsexperte Wolfgang Mazal im Ö1-"Morgenjournal". Eigentlich müssten 24-Stunden-Kräfte, die Senioren ab Pflegestufe drei betreuen, als Arbeitnehmerinnen entlohnt werden. "Warum das aber weitgehend ignoriert wurde, verstehe ich bis heute nicht", sagt Mazal.

Die 24-Stunden-Betreuung wird in Österreich durch das sogenannte Hausbetreuungsgesetz aus dem Jahr 2007 geregelt. Dieses sieht zwei Modelle vor: die Betreuung auf unselbstständiger und jene auf selbstständiger Basis. In der Praxis hat sich Letzteres durchgesetzt, allerdings mit deutlichen Merkmalen einer Scheinselbstständigkeit: Betreuerinnen sind an Weisungen ihrer Klientinnen und Vermittlungsagenturen sowie zeitlich und örtlich an einen Klienten gebunden. Auch umstrittene Vollmachten, die Agenturen übernehmen, sind keine Seltenheit in der Branche.

Experte rechnet mit Klagen

Österreich habe bei diesem Missstand jahrelang weggeschaut, sagt Sozialrechtsexperte Mazal – weder Agenturen noch den betroffenen Personen können Vorwürfe gemacht werden, "das System hat die Frauen im Stich gelassen". Aus diesem Grund müssten nun viel mehr öffentliche Gelder in den Bereich fließen.

Indes wurde auch Kritik von der SPÖ an Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) laut. "Seit Jahren wissen wir, dass in der Pflege der Hut brennt. Kanzler Kurz verspricht seit Jahren eine Reform", sagt SPÖ-Sozialsprecher Josef Muchitsch, passiert sei aber nichts. "Die 24-Stunden-Betreuerinnen müssen rund um die Uhr arbeiten und werden nicht anständig entlohnt. Das muss ein Ende haben", heißt es in einer Aussendung. Pflegekräfte, so Muchitsch, müssten arbeitsrechtlich korrekt behandelt und entlohnt werden.

Auf die Frage, wie eine gute Lösung aussehen könnte, sagte Sozialrechtsexperte Mazal im "Morgenjournal": "Wenn jemand rund um die Uhr für mich da ist, muss er auch entsprechend bezahlt werden. Ihm schwebt ein Schichtenmodell vor, wo mehrere Pflegekräfte eine Person betreuen. Auch technologische Fortschritte sollten genutzt werden. Es müsse letztlich nicht ständig eine Person anwesend sein. Dass dringender Handlungsbedarf besteht, unterstreicht Mazal zum Schluss: "Ich hoffe, dass wir es schaffen, sonst rechne ich doch mit einem deutlichen Anstieg der Klagen." (Elisa Tomaselli, 29.6.2021)