Mehr als 600 Menschen halten hinter der Stadt die Stadt am Laufen.

Foto: Stefan Fürtbauer

Die Frage, wo Wien endet, lässt sich so einfach wie vielschichtig beantworten: am Zentralfriedhof. Danach kommt nix mehr – es sei denn, man will in den Himmel. Dann geht es am Airport-Check-in weiter. Aber sonst? Zwischen Zentralfriedhof und Flughafen? Ist da was?

Helmut Poppenberger kennt das Staunen, wenn er dann sagt, dass hier nicht nur "was", sondern "viel" ist. Und dass Wien stillstünde, wenn da wirklich "nix" wäre. Wenn es diesen Ort, der ein Viertel der Fläche der Josefstadt einnimmt, nicht gäbe. Diesen Ort, mehr als halb so groß wie der Vatikan: 25 Hektar nämlich. Nur kann sich darunter kaum wer etwas vorstellen. Anschaulicher wird es, wenn Helmut Poppenberger auf ein paar jener Menschen zeigt, die hier unterwegs sind. Meist auf Fahrrädern: Die Wege sind oft zu weit, um zu gehen. Aber Öffis fahren hier keine.

Wobei das so nicht stimmt. Natürlich fahren hier Öffis. Genauer: Sie fahren sogar hierher. So gut wie jeder Bus, jede Straßenbahn und auch die meisten U-Bahn-Züge sind regelmäßig hier. Straßenbahnen etwa kommen alle sechs Jahre ins Niemandsland zwischen Simmering und Schwechat, zum "Pickerl". Das dauert aber nicht ein oder zwei Stunden, sondern ein paar Wochen: Fast bis zur letzten Schraube werden die Tramgarnituren zerlegt, durchgecheckt, wieder zusammengesetzt – und zurück in die Stadt geschickt.

Fast bis zur letzten Schraube werden die Tramgarnituren durchgecheckt.
Foto: Stefan Fürtbauer

Dass sie hier in Simmering, in der Zentralwerkstätte der Wiener Linien, waren, weiß keiner. Wie viel Arbeit allein an diesem Ort dahintersteckt, das System "Öffis" in Betrieb zu halten, auch nicht: Mehr als 600 Menschen halten in der Stadt hinter der Stadt die Stadt am Laufen. "Heinzelmännchen" (oder "-weibchen") möchte sie Helmut Poppenberger aber nicht genannt wissen. Nicht nur, weil er selbst, als Werkmeister der Abteilung Räder und Getriebe, seit über 40 Jahren in der unbekanntesten, aber größten Werkstatt Wiens arbeitet, sondern weil es klein klingt. Aber vor allem, weil es nicht zu jenem Stolz passt, der in Poppenbergers Stimme mitschwingt, wenn er sagt, dass das hier so etwas wie "die Champions League des Arbeitens" sei: "Ich bin stolz, einen Beitrag zu leisten, dass Wien eine der lebenswertesten Städte der Welt ist."

U-Bahn, Bus und Karambole

Die Zentralwerkstätte gibt es seit 1974. Davor wurden Bim und Bus in Rudolfsheim "zentral" serviciert, wenn möglich aber in den über ganz Wien verteilten regionalen Remisen. Bloß: Bei 480 Straßenbahngarnituren, 420 Bussen und etwa 140 U-Bahnen erfordern allein die Lagerung und Bereitstellung von Ersatzteilen enorme Logistik, Flächen – und Kraft: So wiegt ein einziges U-Bahn-Drehgestell (also der vierrädrige "Reifensatz") 7,5 Tonnen. In einem Zug sind 16 verbaut. 2.300 davon rollen durch Wien – pro Jahr müssen über 400 ausgebaut, gewartet und wieder eingebaut werden. Auch Bremsen, Stromabnehmer, Klimaanlagen oder Motoren fallen nicht vom Himmel. Hydrauliksysteme und Elektronikteile warten, putzen und reparieren sich nicht von selbst – und Busstoßdämpfer oder Bimräder liegen nicht beim Kfz-Zubehörhändler abholbereit. "Kurz drüberschauen" oder "Ein Schnellservice reicht" spielt es nicht: Bei Checks werden die Fahrzeuge meist zerlegt, bis nur noch Skelette mit Kabelbäumen in den Montagebuchten stehen.

Dazu kommen noch sogenannte Karambole: Unfallfahrzeuge. Denn auch wenn Crashs mit Personenschaden selten sind, kracht oder knirscht es acht- bis zehnmal am Tag. Kleinigkeiten, Lackschäden und Kratzer werden in den Remisen ausgebügelt, aber wo Kitt und Lackstift nicht helfen, lautet die Diagnose "Ab nach Simmering". 40 bis 50 Karambole, sagt Wolfgang Trinkler, der Leiter des Monatgebereiches, kämen pro Jahr. Sie werden "skelettiert" – auch um nach versteckten, tiefer liegenden Schäden zu suchen.

Die Riesenwerkstatt steht nie still.
Foto: Stefan Fürtbauer

Vor seinen an den waidwunden "Terminator" der frühen Schwarzenegger-Filme erinnernden Bim- oder Busfragmenten fragt Trinkler Besucher dann, wie viele Meter Kabel sie in einer einzelnen Bim vermuten. Die Antworten sind immer falsch – weil viel zu niedrig: Pro Laufmeter Straßenbahn ein Kilometer Kabel wäre richtig. Eine ULF-Garnitur ist fast 35 Meter lang. Beim Service wird jede zu einem Individuum: "Ich erkenne jede Straßenbahn – und jede hat eine Geschichte."

Außerdem erzählen Art und Ausstattung Technologiegeschichte: Als die große Straßenbahnwerkshalle gebaut wurde, war eine Tram um die 20 Meter lang. Man erklomm sie über Treppen. Um sie in eine der rund zwei dutzend Montagebuchten zu bekommen, wurden sie auf einer Plattform zur jeweiligen Montagebucht samt -grube verschoben. Die Spannweite der Hallensteher: rund 27 Meter. Da hat jemand mitgedacht.

Doch wie bekommt man eine moderne 35-Meter-Bim durch eine 27-Meter-Öffnung? Ganz einfach: Man rollt sie wie einen Hering auf der Verschubplatte ein – und verschiebt dann. Aber jetzt steht ein Fahrzeug über der Montagegrube, dessen technische Einrichtungen auf dem Dach sind: Das Publikum soll ja barrierefrei einsteigen können.

Die wenigsten Wienerinnen und Wiener kennen die Zentralwerkstätte ihrer öffentlichen Verkehrsmittel.
Foto: Stefan Fürtbauer

Die Stadt muss mobil bleiben

Der Einbau von Montagebühnen war eine der vergleichsweise kleineren baulichen Veränderungen, die Helmut Poppenberger in 40 Öffi-Jahren hier miterlebte: Von 2009 bis 2014 wurde die Zentralwerkstätte komplett umgebaut. Weil kaum mehr Holz verarbeitet wird, wurden die Tischlereien kleiner. Neue Werkstoffe bedingten neue Sicherheits- und Arbeitsumfelder. Öffi-Klimaanlagen gibt es noch gar nicht so lange. Und Frauen – heute gibt es immerhin schon eine Werkmeisterin – in Werkstattjobs auch nicht: Getrennte Waschräume waren aber die vergleichsweise einfachste Aufgabe. Aber neue Techniken, Strukturen und Arbeitsabläufe bedingten massive Umbauten – bei laufendem Betrieb, sagt Zentralwerkstattsleiter Erich Fiferna: Die Stadt muss mobil bleiben. "Wegen Umbaus geschlossen" auf dem Werkstattrollbalken? Geht nicht.

Manches hier erzählt aber mehr über die Menschen als über ihre Arbeit: Liebevoll gepflegte Pflanzen findet man zwischen Generatoren und Motoren überall. Doch die lange tolerierten Kleintiere – meist Aquarienfische oder Vögel – sind heute aus hygienischen und Sicherheitsgründen nicht mehr erlaubt. Und der "Pool", erzählt Poppenberger, sei Geschichte. Leider. Der Pool? Ja, der Pool.

Genau genommen handelte es sich bei dem ja um ein etwa zehn mal fünf Meter großes Löschwasserreservoir. Dass man nach der Schicht im Sommer kurz hineinsprang oder die Kinder sogar planschen kamen, beeinträchtigte weder den Zweck der Einrichtung noch die Mitarbeitermotivation. Ganz im Gegenteil.

Nur basiere moderner Brandschutz heute auf anderen Einrichtungen, bedauert Betriebsfeuerwehrmann Manfred Unger. Der einzige hauptamtliche Öffi-Feuerwehrmann hat ein eigenes Löschfahrzeug – und koordiniert ein Team aus Brandschutz- und Sicherheitsexpertinnen und -experten, das über alle Abteilungen des Areals verteilt ist. Alle Posten immer besetzt zu halten sei manchmal nicht ganz einfach, gibt er zu.

Schuld sei nicht mangelnde Bereitschaft, sondern die Struktur der Stadt: Wien hat eine Berufsfeuerwehr. In Betriebsfeuerwehren sollen aber, nachvollziehbar, tunlichst Menschen mitwirken, die von daheim "Feuerwehrerfahrung" mitbringen. Das Gros der Mitarbeiter der Werkstatt lebt aber in Wien.

Bis zu 1.200 Tonnen Scheinen pro Jahr verarbeiten die Wiener Linien.
Foto: Stefan Fürtbauer

Brände bekämpfen müssen die Betriebsfeuerwehrleute zum Glück so gut wie nie. Sicherungs- oder Erste-Hilfe-Aufgaben gibt es aber immer wieder. Schließlich ist einer Werkstatt für Großfahrzeuge immanent, dass mit großem, massivem Gerät gearbeitet wird. Besonders augenscheinlich wird das auf dem von der Simmeringer Hauptstraße abgelegensten Teil des Areals – dem "Schrottplatz". Freilich nennt den niemand zweimal so: Wo Laie eine gewaltige Halde "verrosteter" Stahltraversen sieht, wartet in Wirklichkeit das Fundament städtischer Mobilitätsinfrastruktur auf seinen Einsatz: Schienen. Der Flugrost auf ihnen, erklärt Armin Raudaschl, der Leiter der Gleisbauwerkstätte, sei normal. Er schleife sich im Betrieb von selbst ab. 1.200 Tonnen Schienen werden bei Raudaschl jedes Jahr "verarbeitet". Angeliefert werden sie schnurgerade. Zwischen 15 und 18 Meter lange, pro Laufmeter 60 Kilo schwere Teile. Dann werden sie geschliffen, gekürzt, gefräst, gebogen, verschweißt – und oft wieder zerlegt.

Zerlegt? Ja. Schon Straßenbahnkurven sind nie gleich – aber Weichen immer Maßanfertigungen: Auf dem Eichenboden der Schienenwerkstatt ("Eiche, weil man die Schienen so gut auf dem Boden festklampfen kann") wird jede Weiche zunächst penibelst vorgebaut und zusammengeschweißt. Dann vermessen, katalogisiert – und in ihre Einzelteile zerlegt: Die Frage, wie man eine fix und fertig montierte Weiche quer durch eine Stadt transportiert, hat sich kaum ein Wiener, kaum eine Wienerin wohl je gestellt.

Und darauf, sie so zu beantworten, dass nie jemandem einfällt, sie zu stellen, sind die Menschen in der größten und unsichtbarsten Werkstatt der Stadt stolz. Gerhard Poppenberger weiß das: "In der Straßenbahn denkt keiner nach, wieso sie überhaupt fährt: Dass das selbstverständlich ist, ist ein großes Kompliment." (Tom Rottenberger, 5.8.2021)