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Szenario eines viralen Angriffs: Das Spike-Protein (rot) von Sars-CoV-2 dockt an einem ACE2-Rezeptor (blau) der Wirtszelle an.
Illustration: Picturedesk.com / Science Photo Library

Man kann ihm durchaus Respekt zollen. Schließlich hält der Winzling schon seit anderthalb Jahren die gesamte Menschheit in Atem. Seine steile Karriere dürfte das Virus mit der Bezeichnung Sars-CoV-2 gleichwohl dem Zufall verdanken. Wie alle seine Verwandte aus der Familie der Coronaviren trägt es an der Außenhülle eine ganze Batterie sogenannter Spikes – Spezialproteine, die gewissermaßen wie die Stacheln eines Seeigels abstehen.

In Gegensatz zu Letzteren sind die Spikes allerdings Angriffswaffen. Mit ihnen heftet sich das Virus an die Wirtszelle und dringt in diese ein. Schlimmstenfalls ist es der Beginn einer fatalen Krankheit. Laut offizieller Statistik hat Covid-19 bisher weltweit schon mehr als 3,9 Millionen Todesopfer gefordert. Die Dunkelziffer könnte deutlich höher liegen.

Die Wurzeln von Sars-CoV-2 liegen wahrscheinlich im Tierreich. Als ursprüngliche Wirte kommen vor allem Fledermäuse infrage. Die später erlangte Fähigkeit, Homo sapiens zu infizieren, entstand durch Mutation. Eine zufällige Veränderung im Erbgut des Erregers sorgte für veränderte Spikes. Ihre dreidimensionale Struktur wandelte sich ein wenig, und das hatte offenbar weitreichende Folgen.

Schlüssel und Schloss

"Der Vorteil ist: Das Virus kann sich nicht aus der Bindung an ACE2-Rezeptoren herausmutieren", sagt der Genetiker Josef Penninger.
Foto: APA / Georg Hochmuth

Spike-Proteine binden an bestimmten Rezeptormolekülen auf der Oberfläche von Wirtszellen. Beide, Spike und Rezeptor, passen zueinander wie Schüssel und Schloss, wie Josef Penninger im STANDARD-Gespräch erläutert. Der aus Österreich stammende Genetiker ist seit 2018 Direktor des Life Sciences Institute an der University of British Columbia in Vancouver, ist aber nach wie vor als Gruppenleiter am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) in Wien tätig, das er bis zu seinem Wechsel nach Kanada leitete.

Als Andockstelle für Sars-CoV-2 haben Wissenschafter die ACE2-Rezeptoren menschlicher Zellen identifiziert. Schon 2005 stellten Penninger und weitere Forscher fest, dass ACE2 der Angriffspunkt für den 2002/2003 grassierenden Sars-Erreger war. Normalerweise diene ACE2 als negativer Regulator von Angiotensin 2, welches unter anderem den Blutdruck erhöht, Entzündungsreaktionen antreibt und die Herzaktivität beeinflusst, erklärt Penninger.

Evolutionsbiologisch gesehen scheint das Protein jedoch sehr alt zu sein. ACE2 kommt in ähnlicher Form wie beim Menschen sogar in Bakterien vor. Dort hat es andere Funktionen, aber die Grundstruktur ist dieselbe.

Die Spike-Proteine wiederum sind äußerst dynamisch. Sobald das Coronavirus in Kontakt mit einer Wirtszelle kommt, setzt eine mehrstufige Reaktion ein. Direkt nach der Kopplung zwischen Spike und ACE2 spaltet ein weiteres Enzym den oberen Teil des Spikes, eine Art molekulare Kappe, ab.

Das virale Protein wird dadurch aktiviert. Der Spike streckt sich, wandelt sich zu einem Tentakelbündel und zieht zusammen mit den benachbarten Spikes den Virenkörper immer näher an die Zelle, bis ihre Membran schließlich mit der des Erregers verschmilzt. Jetzt ist der Weg ins Zellinnere frei. Das virale Erbgut wird eingeschleust, die Vermehrung kann starten. Infektion vollzogen.

Synthetische Blockaden

Ihre entscheidende Rolle hat die Spikes mitten ins Visier der Wissenschaft gerückt. Die zur Vorbeugung von Covid-19 entwickelten Impfstoffe regen das menschliche Immunsystem zur Produktion maßgeschneiderter Antikörper an. Diese binden an Spikes und blockieren sie. Das Virus wird so außer Gefecht gesetzt. Nach demselben Prinzip möchte die Medizin auch bereits infizierten Menschen zu Hilfe kommen.

Josef Penninger und seine Kollegen verfolgen dabei einen besonders eleganten Ansatz. Sie setzen künstlich produziertes ACE2 (hrsACE2) ein, dessen Struktur genau jener der Rezeptoren menschlicher Zellen entspricht. Der Clou dahinter: Das synthetische ACE2 soll an den Spikes binden, bevor die Viren neue Zellen befallen können. Das würde die Vermehrung bremsen oder gar unterbrechen.

Die Idee scheint aufzugehen. Ein internationales Forscherteam unter Penningers Leitung hat die Wirkung von hrsACE2 in mit Sars-CoV-2 infizierten Zellkulturen erprobt. Wie im Fachjournal "Cell" berichtet, wurde die Virenvermehrung nach Zugabe der künstlichen Rezeptorproteine um mehr als das 1000-Fache gesenkt. Die Dosis an hrsACE2 bestimmt, wie stark die Reproduktion verringert wird.

Tests in gezüchteten Miniorganen

Parallel dazu testeten die Experten, unter anderem in einem vom Covid-19 Rapid Response-Programm des Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) geförderten Projekt, ob die Erreger auch Zellen in sogenannten Organoiden – im Labor gezüchteten Miniorganen – befallen.

Das tun sie. Die Viren gedeihen in menschlichen Nierenorganoiden und in nachgebildeten Blutgefäßen. Und auch hier vermag hrsACE2 die Infektion zu blockieren. Der gelungene Einsatz der Organoide ist vor allem für weitere Studien von Bedeutung. Die Forschung verfügt nun über ein Modell, in dem sie das Agieren der Erreger unter naturnahen Bedingungen verfolgen kann.

Das therapeutische Potenzial von hrsACE2 ist womöglich auch für die Behandlung schwerwiegender Sars-CoV-2-Infektionen relevant. Körpereigenes ACE2 schützt Zellen und Gewebe vor Überreaktionen. "Bei Lungenerkrankungen ist das Renin-Angiotensin-System stärker aktiviert", sagt Penninger.

Das führe unter anderem zu heftigen Entzündungen. Diese können im Extremfall Organe wie die Lunge irreparabel schädigen. Mit tödlichen Folgen. ACE2 wirkt solchen Prozessen entgegen, doch die Infektion mit Sars-CoV-2 verringert die Neuproduktion des schützenden Proteins und zieht gleichzeitig ACE2-Molekülen von den Zellmembranen ab.

Die Wissenschafter hoffen, dass hrsACE2 diese Reaktionen tatsächlich ausbremsen kann. Bis zur Entwicklung eines einsatzfähigen Medikaments dürfte es allerdings noch ein langer Weg sein. Die Fokussierung auf die Rezeptormoleküle hat dennoch einen enormen Vorteil. Sars-CoV-2 mag flexibel sein und Artgrenzen überwinden, doch es hat eine Achillesferse. "Das Virus kann sich nicht aus der ACE2-Bindung herausmutieren", betont Josef Penninger. Wer diesen Weg verbaut, setzt den Erreger schachmatt. (Kurt de Swaaf, 30.6.2021)