
Plantschen, bis Bolsonaro kommt: In Alice Ripolls Stück flutscht alles so leicht.
Für die postmodernen Gesellschaften ist Reinheit zum großen Thema geworden. Im wörtlichen und übertragenen Sinn: Immer schön hygienisch wirken, also körperlich oder kulturell gut gespült plus desodoriert sein, unbefleckt von Sünden, die Hände geschwemmt in milden Unschuldslaugen.
Unter anderem diese Reinlichkeitssehnsucht unserer Zivilisation hat die brasilianische Choreografin Alice Ripoll aus Rio de Janeiro zu einem Stück angeregt, das jetzt bei den Festwochen im Brut Nordwest zu sehen ist: Lavagem. Dass Ripolls "party for six" – vier Männer, zwei Frauen – etwas Verrücktes an sich haben muss, wird das Publikum angesichts der allgegenwärtigen politischen Schlammschlachten nicht überraschen.
Intime Nähe
Wohl aber möglicherweise, dass Lavagem bereits vor Covid-19 ab November 2019 konzipiert wurde und Assoziationen mit der Pandemie nicht zur ursprünglichen Planung gehören. Die intime körperliche Nähe der jungen Menschen auf der Bühne sollte also nicht als Statement gegen das virusbedingte Physical Distancing gedeutet werden.
In ihrer Form kommt Lavagem als eher schlichte Arbeit daher. Die Zuschauerinnen und Besucher könnten sich daher unterfordert fühlen und zu überlegen beginnen, wohin das anfängliche Geblödel dieser spärlich bekleideten Brasilianer hinauslaufen soll. Und schon schlägt die Falle zu: Samba, Strand und Zuckerhut stehen gegen Präsident Jair Bolsonaros politischen Wahnsinn, den Raubbau an Bodenschätzen und das Niederbrennen des Regenwaldes sowie gegen Kolonialismus.
Bolsonaro und Gehirnwäsche
In das schmutzige Spiel des rechtsradikalen Wirtschaftsfetischisten Bolsonaro, auf das 2018 eine Wählermehrheit hereingefallen ist, mischen sich nach dessen desaströser Pandemiepolitik aktuell Ernüchterung und erste Proteste. Dazu passt eine lange Szene in Alice Ripolls Stück, in der sich die Performer ineinander verstricken, wobei bei den Körperzusammenballungen immer wieder Löcher entstehen, durch die der eine oder andere Leib haltlos durchgleitet.
Das flutscht wie selbstverständlich, scheint also leicht zu funktionieren, ist aber schwer umzusetzen. Daraus könnte man schließen: Alles "easy-peasy" ist grundsätzlich eine Täuschung! Die Wirklichkeit sieht anders aus als in Werbeclips, die genau mit der Sehnsucht nach Leichtigkeit und Überschaubarkeit spielen. Wir wissen es, aber die Gefühle laufen oft gegen dieses Wissen an. "Lavagem cerebral" auf Portugiesisch heißt zum Beispiel "Gehirnwäsche". Und die betrifft nicht nur Bolsonaro Wählende, sondern eben uns alle, die wir uns offenbar unvermeidlich durch die Schaumschlägereien politischer, medialer und ökonomischer Suggestionen bewegen.
So lässt es uns in blütenweißer Empathie Badende nicht unberührt, wenn die Sechsergruppe in einer beinah unerträglich langen Schlusssequenz nach Kräften Seifenschaum aufschlägt und einen der ihren unter dem weißen Zeug begräbt. Denn in jedem Land wartet ein Bolsonaro auf seine Chance. (Helmut Ploebst, 30.6.2021)