Ein Agent ohne gängige Lizenzen: Benedict Cumberbatch in "Der Spion".

Foto: Filmladen

Unauffälligkeit ist gefragt. Kein Experte, sondern ein Jedermann. Der soll Anfang der 1960er-Jahre in Moskau einen sowjetischen Oberst (Merab Ninidze) treffen, der sich mit höchst vertraulichen Informationen an den Westen richtet, um einen Atomkrieg zu verhindern. Die Wahl fällt auf einen Geschäftsmann namens Greville Wynne, eine historische Figur und eine Paraderolle für Benedict Cumberbatch, den man ansonsten besser als klug kombinierenden Detektiv Sherlock Holmes kennt. In Der Spion (The Courier) (Regie: Dominic Cooke) wandelt er sich vom sorgenvollen Durchschnittsbriten zum Mann mit ungewöhnlicher Courage. Ein Gespräch mit dem Schauspieler über seine Bandbreite und einen Spionagefilm, der eine menschliche Dimension behält.

STANDARD: Die meisten Zuschauer kennen Sie als Sherlock Holmes oder Dr. Strange, dabei sind Ihre Interessen sehr breit gefächert. Versuchen Sie eine Balance zwischen großen und kleiner budgetierten, persönlicheren Filme zu halten?

Cumberbatch: Es geht mir vor allem um unterschiedliche Geschichten. Und Der Spion ist kein Film, den man leicht finanziert. Da braucht es Künstler, die sich dafür einsetzen, und da bin ich wohl in einer privilegierten Position. Abgesehen davon zählt immer Qualität, ob das jetzt Dr. Strange ist, der sein Ding abzieht, oder ein Mann in einer Gefängniszelle, der mit seiner Frau ein herzzerreißendes Gespräch führt. Ich fühle mich manchmal wie in verschiedenen Medien. Doch man kann eine Großaufnahme im Theater haben oder eine sehr theatralische Szene vor der Kamera – diese Dinge sind auch austauschbar.

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STANDARD: Weil man sich als Schauspieler stets auf das eigentliche Handwerk konzentriert?

Cumberbatch: Ja, sonst verliert man sich schnell. Man ist nur auf die Party eingeladen. Als normaler Mensch bewege ich mich natürlich durch gewisse Sets wie bei Marvel und frage mich, wie um alles in der Welt das überhaupt bezahlbar ist. Das ist verrückt. Aber die Probleme sind am Ende dieselben: Das Licht fällt aus, jemand steht nicht zur Verfügung, Covid-19 ... Natürlich haben wir in Der Spion weniger Flexibilität, um Probleme zu lösen.

STANDARD: Sie haben den Film auch selbst produziert – es fällt auf, dass immer mehr Schauspieler unabhängig eigene Projekte realisieren.

Cumberbatch: Das ist der wichtige Unterschied. Man ist an allem beteiligt, was sehr befriedigend ist. Dominic Cooke, mit dem ich schon am Theater gearbeitet habe und der ein Freund ist, kam mit dem Projekt zu mir und verkaufte mir die Rolle. Bis zur laufenden Kamera bin ich im Vollproduzentenmodus.

STANDARD: Greville Wynne ist ein Mann, der in die Rolle eines Helden hineingedrängt wird. Hat Sie die Ängstlichkeit, das Zögerliche an der Figur besonders gereizt?

Cumberbatch: Ja, diese Gewöhnlichkeit. Er kommt aus der Arbeiterklasse und hat den sozialen Aufstieg gesucht. Er hat über seinem Stand geheiratet und wurde ein solider Geschäftsmann. Und dann zum Kurier allergeheimster Informationen eines sowjetischen Offiziellen – eine bemerkenswerte Reise. Jeder mag Geschichten, die die Zugkraft eines Thrillers haben; zugleich braucht es jedoch auch Dinge, zu denen man eine Beziehung herstellen kann. Jede Geschichte über einen Mann, der Mut in sich entdeckt, um etwas extrem Unerwartetes für das Allgemeinwohl zu tun, verdient Beachtung.

Merab Ninidze als sowjetischer Oberst in "Der Spion".
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STANDARD: Man könnte ihn als einen Anti-James-Bond bezeichnen, der dann erstaunlicherweise sein Leben riskiert.

Cumberbatch: Ja, der Film ist ein Spionagethriller, aber er ist kein Spion. Er ist in dieser Welt ein Außenseiter. Solche Dinge passieren: Der Geheimdienst klopft einem auf die Schulter. Aus der Sicht eines Schauspielers ist der Reiz offensichtlich: Man sieht jemanden, der sich vom Unwissen langsam ins Wissen bewegt. Ich habe mit Dominic sehr genau darauf geachtet, dass dieser Weg von der Unschuld zum Professionalismus immer zu sehen ist, egal ob er das erste Mal am Flughafen in Moskau aufgehalten wird oder sein erstes Dinner absolviert. Man sollte die Kosten sehen, die das in seinem Leben verursacht. Er gerät in Rage über Dinge, die er seiner Familie nicht erzählen kann. Das ist sein Doublebind.

STANDARD: Heißt das, dass man eigentlich ständig wie aus dem Takt agieren muss?

Cumberbatch: Ich betrachte es als Maßarbeit. Man muss permanent überlegen, wie stark man das Publikum einbezieht. Es geht ja beim Spielen meist darum, wie man etwas von einer Person bekommt und welche Entscheidungen man dafür trifft. Bei der Spionage ist es vielschichtiger, man weiß nicht, wie viel davon nur zum Schein existiert. Der Subtext auf der Leinwand ist enorm, und das ist wundervoll. Es geht nicht um die Spannung eines vorwärtsgetriebenen Plots, es geht um lauter aufgeschobene Momente – um die Frage, was da eigentlich gerade passiert.

STANDARD: Die Rolle verlangte Ihnen auch physisch viel ab, im Gefängnis verliert Wynne extrem an Gewicht. Wie haben Sie das realisiert? Als Brite sind Sie sicher kein "method actor".

Cumberbatch: Ich bin total methodisch, wenn die Kamera läuft, glauben Sie mir! Es gibt nichts mehr um mich herum. Ich brauche aber keine anderen Leute, um das zu spielen, was ich spielen muss. Darin liegt der Unterschied. Ich habe drei Monate lang Diät gehalten – wir haben den Dreh dafür unterbrochen. Es war harte Arbeit, das kann Ihnen Robert De Niro bestätigen! Ich muss es ehrlich gesagt nicht so bald wieder machen. (Dominik Kamalzadeh, 30.6.2021)