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Bewaffnete Polizisten haben vor einem Jahr Demonstrierende in Hongkong mit Bannern darauf aufmerksam gemacht, dass sie das Gesetz brechen. Mittlerweile gibt es kaum noch Proteste in der Stadt.

Foto: AP / Vincent Yu

Wenn George morgens in Wien aufwacht, dreht er normalerweise gleich das Radio auf. Beim Hongkonger Sender RTHK hört er in ein Programm rein, das der regierungskritische Tsang Chi-ho moderiert. Dann scrollt er durch die Website von "Apple Daily", um die neuesten Schlagzeilen aus seiner Heimat zu lesen. Doch seit letzter Woche muss sich George eine neue Morgenroutine überlegen. Moderator Tsang wurde abgedreht, und auf hk.appledaily.com steht bloß noch, wie man sein Abo kündigen kann. Auf Druck Pekings musste die kritische Zeitung schließen.

"Es war nicht nur eine Zeitung", sagt George. Er sitzt in einem Café in Wien und unterhält sich mit seinen Landsleuten Jon und Sandy über die Ereignisse in ihrer Heimat: "Ihr Ende zeigt, wie die Hongkonger Seele niedergemacht und getötet wird."

Noch vor wenigen Jahren, wenn einer der drei in Österreich gefragt wurde: "Kommst du aus China?", haben sie einfach mit "Ja, ja" geantwortet. Es hat für sie keinen Unterschied gemacht. Seit rund zwei Jahren bestehen sie aber darauf: Wir sind Hongkonger.

Nicht allein in Wien

Nicht viele Hongkonger haben sich in Wien niedergelassen. Die längste Zeit dachte Sandy, dass sie gar die einzige in Wien sei. Die Mittvierzigerin lebt schon seit gut 15 Jahren hier, ist mit einem Österreicher verheiratet und besitzt die österreichische Staatsbürgerschaft. Erst die Ereignisse der vergangenen Jahre in ihrer Heimat brachten die Frau auf die Idee, überhaupt nach anderen Hongkongern in der Stadt zu suchen.

Was in den vergangenen zwei Jahren in Hongkong passiert ist, müssen sie erst verarbeiten. Mit harter Hand gliedert Peking die Sonderverwaltungszone am Südchinesischen Meer ins eigene System ein. Eigentlich sollte dort bis 2047 noch die Devise "Ein Land, zwei Systeme" herrschen. Doch erst wurde die Protestbewegung 2019 mit Polizeigewalt niedergeschlagen. Dann, vor einem Jahr, hat Peking Ernst gemacht: In einer Nacht-und-Nebel-Aktion erließ das Zentrum am 30. Juni 2020 das Nationale Sicherheitsgesetz, das Peking weitgehende Zugriffsrechte auf Hongkong zusichert.

Laut Human Rights Watch wurden während der Massenproteste von 2019 und 2020 mehr als 10.000 Menschen inhaftiert. Mehr als 100 von ihnen müssen sich wegen des neuen Gesetzes vor Gericht verantworten. Amnesty International kritisiert das Gesetz zum Jahrestag als Instrument für "grundlose Festnahmen, Schikanen und Zensur".

Rückreise ungewiss

"Als das Gesetz verlautbart wurde, war klar: Hongkong ist tot", schildert Jon die für ihn schmerzhaften Tage vor einem Jahr. Er, Anfang 20, war damals schon in Wien. Alle waren in Schockstarre, stimmt auch George zu: "Sogar Carrie Lam, die Regierungschefin, hat am Tag davor noch nicht gewusst, was da eigentlich genau drinsteht."

Keiner der drei war seit Inkrafttreten des neuen Gesetzes in Hongkong, um die Familie zu besuchen. Die Angst, nicht mehr zurückkehren zu können, sei zu groß, sagt Sandy. Erst am Montag wurde wieder ein ehemaliger "Apple Daily"-Journalist am Flughafen festgehalten, als er nach London fliegen wollte.

Pekings "Weißer Terror"

Ende April wurde außerdem ein umstrittenes Immigrationsgesetz vom Parlament angenommen, das es der Immigrationsbehörde direkt ermöglicht, zu entschieden, wer ein- und vor allem ausreisen darf, ohne Gerichtsbeschluss oder Vetorecht. Für die drei bedeutet das: Einreisen können sie. Aber kommen sie auch wieder heraus?

Das ist der Grund, warum sie nicht ihren echten Namen in den Medien stehen haben wollen. "Weißen Terror" nennen sie Pekings Taktik: Man weiß nie, wen welche Maßnahmen treffen. "Es ist eine Lotterie, ob man verhaftet wird", sagt Jon. Er hatte sich schon vor den Massenprotesten für ein Studium in Wien entschieden. Als die Demos starteten, hat ihn seine Familie aber erst recht bekräftigt, Hongkong zu verlassen. "Wenn aber alle weggehen", sagt er heute, "dann stirbt die Hongkonger Identität langsam aus."

Hardware ohne Köpfe

Was Peking in Hongkong macht, sei, als würden sie das Blut eines Menschen tauschen, sind sich die drei einig. Die "Hardware" wolle Peking als Fassade aufrechterhalten, doch die entscheidenden Köpfe würden ausgetauscht. Wie den Radiosender, den George jeden Morgen gehört hat: Das Programm gibt es weiterhin, aber der Moderator ist weg.

So finden sich die Expats in einer neuen Rolle wieder: Es liege an ihnen, die Hongkonger Identität weiterleben zu lassen, sagt Jon. Sandy hat dafür die Lokalpolitik für sich entdeckt. Genau studiert sie, welche Parteien sich wann wie zu Hongkong äußern. Immer wieder setzen sich hierzulande Parteien für Hongkong ein. "Und das, obwohl sie uns gar nicht kennen!", sagt sie erfreut.

George sieht sich als wandelnde Werbetafel in Wien, weil er durch seine bloße Anwesenheit Freunde daran erinnere, dass in Hongkong etwas nicht stimme. "Wir müssen wie Wasser sein", zitiert er Bruce Lee, den berühmten Hongkonger Kampfsportkünstler. Es bringe nichts, sich China direkt gegenüberzustellen. Dazu sei Peking einfach zu stark. "Aber wenn ihr uns attackiert, werden wir wie Wasser entwischen und woanders wieder auftauchen. (Anna Sawerthal, 30.6.2021)