Lorin-Johannes Wagner vom Institut für Europarecht an der Universität Graz antwortet in seinem Gastkommentar dem Arbeitsrechtler Wolfgang Mazal, der beim Staatsbürgerschaftsrecht keinerlei Änderungen will.

Wolfgang Mazal hat in seinem Kommentar der anderen ("Staatsbürgerschaft ist Verantwortung") in wunderbar eloquenter Weise dargelegt, warum wir in Österreich am Ius sanguinis (Abstammungsprinzip) festhalten und auch weiterhin festhalten sollen. Im Narrativ dieser staatsrechtlichen Prosa geht es um die Fortentwicklung der Feinstrukturen in einer gemeinsamen Gesellschaft, in der "das Verstehen der Gesellschaft und ihrer staatlichen Verfasstheit" durch die Begleitung der Eltern sichergestellt wird. Die Gemeinschaft der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger beruht, um es in Anlehnung an ein geflügeltes Diktum des Staatsrechts zu formulieren, also auf familiären Voraussetzungen, die der Staat selbst nicht herstellen kann.

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Foto: Christian Fischer

Die Initiation in den Kreis der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger kann, denkt man es konsequent zu Ende, also nur das Ergebnis eines familiären Sozialisationsprozesses sein, in dem der/die Einzelne eingewoben wird in das staatliche Sein Österreichs. Jenseits dieser familiären Sozialisation erscheint eine Integration in die Feinstrukturen des Staates fruchtlos. Sonstige Staatsbürgerschaftsanforderungen – die wahrscheinlich ein Gutteil der Österreicherinnen und Österreicher nicht erfüllen würde – stellen damit letztlich auch nur unzureichende Integrationssubstitute dar. Man kennt das: Am Ende ist man Familie oder eben nicht.

Geordnete Gemeinschaft

Dieses Narrativ steht in einem virulenten Spannungsverhältnis zu den Prinzipien und dem Selbstverständnis des liberalen Rechtsstaats. So ist zwar zuzugeben, dass auch der Rechtsstaat auf Voraussetzungen beruht, die seiner Genese vorausgehen. Als gesellschaftliches Konstrukt beschreibt der Rechtsstaat aber eine im und durch den Staat geordnete Gemeinschaft. "Vorstaatliche" gesellschaftliche Werte und Vorstellungen werden so zwar im Rechtsstaat verarbeitet, zugleich werden sie damit aber auch Gegenstand der rechtlichen Gestaltung.

Die Integration in die Gesellschaft eines Rechtsstaats setzt in diesem Sinne auch nicht mehr und nicht weniger voraus als die dauerhafte Einbettung in ein Netz aus Beziehungen sowie die Anerkennung der hieraus folgenden Rechte und Pflichten. Wer dauerhaft in Österreich lebt und so in seinen Beziehungen an das österreichische Recht gebunden ist, dem muss man zugestehen, in der österreichischen Gesellschaft integriert, Teil derselben zu sein. In dieser positivistischen Sichtweise sind es nicht die Blutsbande, sondern die Bande des Rechtsstaats, die den Einzelnen zum Teil der Gemeinschaft machen.

Dies wiederum setzt aber die Fähigkeit voraus zu erfassen, wie dieses staatliche Ordnungssystem, in dem wir uns bewegen, verfasst ist. Nun, selbst als Jurist stößt man hier zuweilen an Grenzen. Denn das Bewusstsein, dass nahezu all unser Handeln eine rechtliche Dimension hat, tritt in der Regel nur dann zutage, wenn Konflikte eskalieren. Die rechtsstaatlichen Feinstrukturen bleiben mit anderen Worten vielfach unsichtbar, sie schwingen aber als unterbewusste Gewissheit mit. Der erfolgreiche Rechtsstaat lebt letztlich auch nicht von der Härte des Gesetzes, sondern von der Gewissheit in den Rechtsstaat.

Gewissheit vermitteln

Der Schwierigkeit, diese Gewissheit zu vermitteln, könnte man nun dadurch begegnen, dass man die Kenntnis des gesamten Rechtsbestands zur Voraussetzung für die Einbürgerung macht – also mehr Juristinnen und Juristen braucht das Land? Das ist freilich eine absurde Vorstellung. Worum es aber tatsächlich geht, ist die Schaffung von Räumen, in denen diese Gewissheit, die das gesellschaftliche Miteinander unterfüttern, eingeübt werden.

Ein Staat allerdings, der diese Integrationsverantwortung ins Private auslagert, läuft Gefahr, in seinen Grundfesten zu erodieren, da in einem Immigrationsland wie Österreich auf lange Sicht immer weitere Teile der Bevölkerung kein oder nur ein unzureichendes Verständnis für das Ordnungsregime des gesellschaftliche Miteinanders ausbilden. Was droht, ist die Überforderung rechtsstaatlicher Strukturen. Das beständige Rühren an dem, was gerade noch legal ist oder eigentlich schon nicht mehr legal, aber ungeahndet bleibt – das "vorbildhaft" auch an anderer Stelle von Spitzenrepräsentanten unseres "fehlgeleiteten" Rechtsstaats exerziert wird –, führt peu a peu in ein recht- und gemeinschaftsloses Jeder-ist-sich-selbst-der-Nächste.

Dieses dystopische Bild wird im Übrigen auch dadurch angeheizt, dass nicht nur die Schere zwischen Österreicherinnen, Österreichern und dauerhaft hier lebenden Fremden perpetuiert wird, sondern gesellschaftliche Fragmentierungstendenzen durch ökonomische und technologische Entwicklungen verstärkt werden. Das "erfahrungsbasierte Grundverstehen" für die Strukturen der Gemeinschaft, wie es Mazal nennt, reicht daher vielfach kaum über die eigene Bubble hinaus. Die Antwort auf die Frage, worauf die Staatsbürgerschaft aufbaut, kann angesichts dessen wohl kaum Blutsbande oder übersteigerte und zum Teil banale Staatsbürgerschaftsanforderungen lauten.

Gemeinsame Räume

Die staatsbürgerliche Integrationsverantwortung des Staates nicht nur gegenüber Fremden, die dauerhaft hier leben, sondern auch gegenüber gebürtigen Österreicherinnen und Österreichern muss vielmehr bei der Schaffung von gemeinsamen Erfahrungsräumen ansetzen. Nicht ganz zu Unrecht hat man im Frankreich des 19. Jahrhunderts insoweit betont, dass man nicht als Franzose geboren wird, sondern dass man in der Schule und im Militär zum Franzosen wird. Ohne nun der Militarisierung das Wort reden zu wollen, macht man es sich zu einfach, wenn man die Staatsbürgerschaft ans Ende eines erfolgreichen Integrationsprozesses setzt, Integration aber im Kern als innerfamiliäre Angelegenheit betrachtet. Daran ändern dann auch Integrationsformalismen nichts mehr.

Wer will, dass Staatsbürgerschaft mehr beschreibt als ein formales Konstrukt, das Menschen einem Territorium zuordnet, und die Verantwortung für die Teilhabe in einer rechtsstaatlichen Gesellschaft ernst nimmt, der sollte das Beharren auf Blutsbanden und anderen unzureichenden Integrationsformalismen ernsthaft überdenken. (Lorin-Johannes Wagner, 1.7.2021)