Zwischen selbstzerfleischenden Klavierballaden, Lobliedern auf den Penis und Mainzer Karneval ist bei John Grant alles möglich.

Foto: Hördur Sveinsson

Es beginnt mit einem wabernden, leicht einlullenden, aber hintergründig mild-dystopischen Synthesizer-Intro. Es erinnert an das Jahr 1982 und den Soundtrack des Elektronikmusikers Vangelis für Blade Runner. Der Film spielt im Jahr 2019 und zeigt ein dankenswerterweise in der Realität doch noch nicht ganz heruntergekommenes, seelenloses und nur schwer ertragbares, unter einer Smogwolke in ewiger Dunkelheit darniederliegendes Amerika.

Dieses verheißt zwar über neonbunte Werbewände Glück. Es kennt aber für Leute (und Androiden), die sich außerhalb der Norm bewegen, letztlich keine Gnade. Achtung, das ist eine Allegorie auf die menschliche Seele! John Grant singt auf seinem neuen, wie immer streng autobiografischen Album Boy From Michigan (Bella Union / Pias): "You’re just a simple boy from Michigan/ And they’ll be doing everything they can to win/ So please, please don’t ever let your guard down!"

John Grant

Nur weg hier! Vor allem auch weg vom übermächtigen Vater. An ihm wird sich John Grant sein ganzes späteres Künstlerleben immer wieder abarbeiten müssen. Im deutschen Märchen heißt es, etwas Besseres als den Tod finden wir überall.

1982 war John Grant vierzehn Jahre alt. Er hatte, irgendwo draußen in der ländlichen Einöde, seine Homosexualität erkannt und versuchte sie verzweifelt zu unterdrücken. Und er litt an einer bigotten Umwelt sowie seiner einen strengen Gott fürchtenden Methodistenfamilie. Prügel daheim und auf dem Schulhof, radikale Ausgrenzung, tiefe seelische und das ganze spätere Leben prägende Verletzungen. Das volle Programm.

Musik als Rettungsanker

Die Provinz gebiert Monster. Glücklich sind deren Opfer, die sich rechtzeitig durch Flucht retten können. Die Musik wurde früh zum Rettungsanker für John Grant. Abba, Supertramp, The Carpenters. Melancholische, zu Herzen gehende Popsongs, nicht das breitbeinige testosteronreiche Haarspray-Hardrock-Geprotze der anderen Burschen in den Käffern in Michigan und Colorado, in denen er aufwuchs. Später dann Alkohol, Drogen, Depression und Therapien.

John Grant

Mit seiner Band The Czars lieferte er von Denver aus in den 1990ern dennoch verträumte, wunderbar melancholische Popsongs ab. Die Gruppe zerbrach schließlich Mitte der Nullerjahre.

2010 erfand sich John Grant mit seinem Soloalbum Queen of Denmark neu. Nach einem Deutsch- und Russischstudium in Mainz war Grant europhil geworden. Er machte sich auf die musikalischen Spuren seines mit einer ähnlichen Biografie ausgestatteten Idols Elton John und dessen Album Goodbye Yellow Brick Road. Die Lieder von Queen of Denmark leiteten eine von John Grant jetzt mit der Arbeit Boy From Michigan zur Meisterschaft gebrachte autobiografische und klavierballadenlastige Trauerarbeit ein, die im Song The Rusty Bell wieder einmal den Fluch des Vaters bannen soll: "And forty years later I’m still trying to run."

Dazu erzählt Grant mit weichem Bariton über erste sexuelle Erlebnisse in The Cruise Room oder zu retrogardistischem Synthesizer-Gewabere in Mike and Julie von einer unerfüllten Kindheitsliebe. Damit wir uns nicht missverstehen, John Grant ist zwar eine der größten Dramaqueens, die dieser Planet zu bieten hat, und er geht sehr gern auch mit sich selbst immer wieder hart zu Gericht. Im verblödelten Lied Rhetorical Figure gibt aber Deutschstudent Grant auch den Fastnachtsprinzen und Neue-Deutsche-Welle-Experten. Geier Sturzflug trifft auf Inga Humpe und Ideal: "Klingen-klang-geklungen/ Helfen-half-geholfen ..."

Schmalz mit Humor

Neben einer Ode an das Geschlechtsteil seines Lovers im sperrigen Elektropopsong Your Portfolio setzt es schließlich clean und frohgemut von seinem nunmehrigen Lebensmittelpunkt Island aus auch noch eine Abrechnung mit Donald Trump. Da geht mit ihm nicht nur der schmalzige Elton John durch, sondern auch der Humor: The Only Baby (This Bitch Could Have). In der Mainzer Fastnacht heißt es: Wolle mer’n eroilosse?! Ja, aber John Grant soll keine Witze machen.

John Grant

2019 rettete sich der Blade Runner am Ende aus dem Elend nach draußen in die Natur und in die Sonne. John Grant ist es da wohl ähnlich ergangen. (Christian Schachinger, 1.7.2021)