Ziel der Forschung ist es, mittels gezielter Steuerung der Ionenkanäle die Krebszellen in einer bestimmten Zellzyklusphase festzuhalten – also quasi im Wachstum einfrieren – oder sogar zum Selbstmord anregen. Im Bild: Grafische Darstellung einer sich teilenden Krebszelle.

Illustr.: peterschreiber.media

Krankhafte Veränderungen der elektrophysiologischen Spannung der Zellmembran sind im Zusammenhang mit der Krebsentstehung und -weiterentwicklung von grundlegender Bedeutung. Grazer Forscher haben in internationaler Zusammenarbeit erstmals ein digitales Modell einer Krebszelle entwickelt, das die Veränderungen des Membranpotenzials simulieren kann. Gelungen ist das für den Bereich des Lungenadenokarzinoms, teilte die TU Graz am Donnerstag mit.

Digitale Zellmodelle fokussierten bisher auf erregbare Zellen wie etwa Nerven- oder Herzmuskelzellen und ermöglichen die Simulation elektrophysiologischer Vorgänge nicht nur auf zellulärer, sondern auch auf Gewebs- und Organebene. Diese Modelle werden zur Diagnoseunterstützung und Therapiebegleitung im klinischen Alltag bereits eingesetzt. Das Team rund um Christian Baumgartner von der TU Graz legte in Kooperation mit Kollegen von der Medizinischen Universität Graz und dem Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York das Augenmerk nun erstmals auf die spezifischen elektrophysiologischen Eigenschaften nicht-erregbarer Krebszellen.

Potenzialschwankungen an der Zellmembran

In erregbaren Zellen löst ein elektrischer Stimulus sogenannte Aktionspotenziale aus. Das führt zu kurzzeitigen, Millisekunden dauernden elektrischen Potenzialänderungen an der Zellmembran, die "elektrische" Informationen von Zelle zu Zelle weiterleiten. Durch diesen Mechanismus kommunizieren neuronale Netzwerke oder wird der Herzmuskel aktiviert, der infolge dessen kontrahiert. Aus experimentellen Untersuchungen ist bekannt, dass auch "nicht-erregbare" Zellen charakteristische Potenzialschwankungen an der Zellmembran aufweisen.

Im Vergleich zu erregbaren Zellen erfolgen die Potenzialänderungen aber sehr langsam und über den gesamten Zellzyklus hinweg, also über Stunden und Tage, und dienen als Signal für den Übergang zwischen den einzelnen Zellzyklusphasen", erklärt Baumgartner, Leiter des Instituts für Health Care Engineering und Seniorautor der im Fachjournal "PLoS Computational Biology" erschienenen Studie.

Aus gesund wird krank

Krankhafte Veränderungen der Zellmembranspannung, insbesondere während des Zellzyklus, sind für die Krebsentstehung und -progression von grundlegender Bedeutung. "Ionenkanäle verbinden das Äußere mit dem Inneren einer Zelle. Sie ermöglichen den Austausch von Ionen wie Kalium, Calcium oder Natrium und regeln dadurch das Membranpotenzial. Änderungen in der Zusammensetzung der Ionenkanäle sowie ein verändertes funktionales Verhalten selbiger können Störungen in der Zellteilung zur Folge haben, möglicherweise sogar die Zelldifferenzierung beeinflussen und damit eine gesunde Zelle in eine krankhafte (karzinogene) Zelle verwandeln", sagt Koautorin Sonja Langthaler.

Für ihr digitales Krebszellenmodell wählte das Team das Beispiel der menschlichen Lungenadenokarzinom-Zelllinie A549. Das Computermodell simuliert die rhythmische Schwingung des Membranpotenzials während des Überganges zwischen den einzelnen Zellzyklusphasen und ermöglicht die Vorhersage, welche Membranpotenzialänderungen durch ein medikamentöses Ein- und Ausschalten ausgewählter Ionenkanälen verursacht werden. "Wir bekommen also Auskunft über die Auswirkungen gezielter Eingriffe auf die Krebszelle", ergänzt Baumgartner.

Beschleunigtes Tumorwachstum

Die Aktivität bestimmter Ionenkanäle kann zudem die Teilung krankhafter Zellen antreiben und damit das Tumorwachstum beschleunigen. Wenn man nun Ionenkanäle gezielt manipuliert, wie durch neue, erfolgsversprechende Wirkstoffe und Medikamente, kann man die Zellmembranspannung und damit das gesamte elektrophysiologische System sozusagen aus der Spur werfen.

"Damit ließen sich Krebszellen in einer bestimmten Zellzyklusphase festhalten, aber auch vorzeitig in den Zelltod schicken. Man könnte Krebszellen quasi im Wachstum einfrieren oder zum Selbstmord anregen. Und genau solche Mechanismen lassen sich mithilfe von Modellen simulieren". Baumgartner und sein Team sehen das erste digitale Krebszellenmodell als den Beginn umfassenderer Forschungen. Um den Detailgrad des Modells zu erhöhen, sind weitere experimentelle und messtechnische Validierungen geplant und beim Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF zur Förderung eingereicht. (red, 1.7.2021)