Rund ums Wembley-Stadion herrscht ein großes Strömen.

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Miranda Suchomel: "Ich verstehe schon, dass Fans nicht schweigend applaudieren."

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Hans-Peter Hutter: "England ist nur ein Vorbote."

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"Die Uefa ist ja nicht niemand. Ihr Vorgehen ist ein Witz!" Hans-Peter Hutter, Umweltmediziner an der MedUni Wien, ist sozusagen außer sich. Er stimmt nicht nur ein in das Lied, das vor allem deutsche Spitzenpolitiker mit ihrer Kritik an der europäischen Fußball-Union intonierten, er singt es noch weiter. Deutschlands Innenminister Horst Seehofer und andere hatten kein gutes Haar an der Uefa gelassen, weil diese trotz steigender Corona-Zahlen in England bei den Finalspielen in London die Zuseherzahlen weiter erhöhen will – auf mehr als 60.000."

Es war schon verwunderlich", sagt Hutter dem STANDARD, "dass die Uefa von Anfang an keine Deckelung vorgesehen hat. Sie hätte gleich sagen müssen, es dürfen in allen Stadien maximal 30 oder 50 Prozent der Plätze belegt sein. Aber sie hat nichts dergleichen vorgesehen." Im Gegenteil, die Uefa hatte Veranstalterstädten gedroht, ihnen Spiele wegzunehmen, sollten sie bei den Zuseherzahlen zu stark bremsen. Dass sich der Verband nun, da Kritik laut wird, an den lokalen Behörden abputzt, empört Hutter erst recht. "Schließlich ist es die Uefa, die als Veranstalterin der EM auftritt."

Viele Männer

Zahlen aus Schottland unterstreichen die Sorgen. Fast 2.000 Corona-Infektionen stehen dort laut offiziellen Angaben in direkter Verbindung zu EM-Spielen. Tausende Schotten waren trotz staatlicher Warnungen nach London gereist, allein 400 der positiv Getesteten gaben an, im Stadion gewesen zu sein. Drei von vier Infizierten waren 20 bis 39 Jahre alt, neun von zehn Männer.

"Da sieht man, dass die Drei-G-Regel nicht reicht", sagt Miranda Suchomel, Hygienikerin an der Med-Uni Wien, dem STANDARD. "Wer im Stadion war, müsste ja genesen, geimpft oder getestet gewesen sein." Auch so gesehen hält es Suchomel für "selten dämlich", Zuseherzahlen dramatisch zu erhöhen.

Mir wird schon nichts passieren, so sieht die Denkweise aus. Und wenn der eine oder zunächst vielleicht noch Vorsicht walten ließ, wird diese im Stadion oder bei den Public Viewings spätestens im Freudentaumel über Bord geworfen. Für Hutter ein Klassiker. "Das erinnert ein bisserl an den Alkoholisierten, der sich ans Steuer setzt in der Überzeugung, dass er schon keinen Unfall bauen wird." Im bisherigen Verlauf der EM habe er da allerdings große Unterschiede festgestellt, sowohl im Stadion als auch bei Public Viewings. Da und dort sei durchaus auf Abstand geachtet worden, aber längst nicht überall.

An- und Abreise als Problem

Riskant ist laut Suchomel nicht allein der Stadion- oder Public-Viewing-Besuch, riskant sei auch die An- und die Abreise, die sich jedenfalls indoor abspielt, in Zügen, Bussen und Autos, manchmal in Flugzeugen. Gegeben sei das Infektionsrisiko aber auch unter freiem Himmel. Suchomel: "Ich verstehe schon, dass die Fans bei einem Tor nicht schweigend applaudieren. Aber wenn sie sich umarmen und sich anbrüllen, fliegen die Tröpfchen halt nur so herum."

Besonders eindringliche Worte hatte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach gefunden. "Die Uefa", hielt Lauterbach fest, "ist für den Tod vieler Menschen verantwortlich." Beim Spiel England gegen Deutschland, vermutete Lauterbach, "haben sich sicherlich Hunderte infiziert, und diese infizieren jetzt wiederum Tausende."

England, wo wegen der Verbreitung der Delta-Variante die Corona-Zahlen steigen, ist laut Hutter "nur ein Vorbote. Die Zahlen werden überall wieder hinaufgehen, das ist absehbar." Dass die EM tatsächlich "für den Tod vieler Menschen verantwortlich" sei, würden weder Hutter noch Suchomel so sagen. Hutter: "Wenn viele Menschen zusammenkommen, dann ist klar, dass sich auch relativ viele infizieren, dann ist wiederum klar, dass es dadurch zu Verbreitungen kommt." Von vielen Toten zu reden, ist laut Suchomel "eine für Politiker nicht untypische Zuspitzung".

20.000 Niederländer

Bei der EM ist London nicht das einzige Problem. Auch in der russischen Stadt St. Petersburg hat sich die Corona-Lage zugespitzt. Dennoch wurde seitens der Uefa nicht daran gedacht, das heutige Viertelfinalspiel Schweiz gegen Spanien zu verlegen oder auch nur das Hygienekonzept zu verschärfen. 50 Prozent der gut 60.000 Plätze in der Arena dürfen besetzt werden.

Die größte Massenbewegung von Sportfans hat dieser Tage nicht mit der EM, sondern mit dem Formel-1-Rennen am Sonntag in Spielberg zu tun. Alleine 20.000 Niederländer, die Max Verstappen anfeuern wollen, werden in der Steiermark erwartet, wo übers Wochenende mit insgesamt mehr als 100.000 Zusehern gerechnet wird. Die Niederländer reisen mit Wohnmobilen, Bussen und auch Privatjets an. Es gilt keine Maskenpflicht mehr, nur noch die 3-G-Regel, die Fans können sich frei bewegen.

"Ein echtes Präventionskonzept", sagt Hans-Peter Hutter, "müsste auch An- und Abreise umfassen. Aber das ist nicht möglich." Dass in Spielberg die Zuseherzahlen im Vergleich zum vergangenen Sonntag (15.000 Zuseher) quasi explodieren, sei "ein Fehler" – oder auch, wie Miranda Suchomel sagt, "das Gegenteil von schlau". (Fritz Neumann, 2.7.2021)