Nathan Law hat keinen direkten Kontakt zu inhaftierten Kollegen. Die Behörden könnten ihnen vorwerfen, dass sie mit ausländischen Kräften konspirieren würden.

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Die von ihm und anderen prominenten Hongkonger Demokratieaktivisten gegründete Partei ist mittlerweile verboten. Nathan Law selbst steht nach dem Nationalen Sicherheitsgesetz auf einer Wanted-Liste. Was ihm genau vorgeworfen wird, ist offen. In London spricht der ehemals jüngste Hongkonger Abgeordnete per Skype über seine Heimat, aus der er vor rund einem Jahr in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geflohen ist.

STANDARD: Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie Hongkong verlassen haben?

Law: Ich konnte über die Entscheidung nicht mit Freunden oder meiner Familie sprechen. Wenn sie gewusst hätten, dass ich gehen werde, hätten die Behörden einen Vorwand gehabt, sie zu verfolgen. Am Ende musste ich aber gehen. Erst am letzten Tag habe ich mich von meiner Familie verabschiedet. Ich hatte meinen Rucksack und nur ein Handgepäck. So konnte man nicht sehen, dass ich vielleicht keinen Fuß mehr in diese Stadt setzen werde. Auf dem Weg zum Flughafen war ich sehr nervös. Diese autoritären Länder haben ja oft eine schwarze Liste. Obwohl ich einen Pass habe, könnte mich die Regierung am Flughafen ohne irgendwelche Gründe stoppen. Es ging aber alles glatt. Ich habe die Grenze überschritten und das Flugzeug geboardet. Dann hoben wir ab. Ich habe hinunter auf die Nachtskyline geschaut. Erst in dem Moment wurde mir wirklich bewusst, dass ich die Stadt verlasse. Es war sehr emotional – vor allem, weil ich mich nicht ordentlich von meiner Familie hatte verabschieden können.

STANDARD: Für viele Demokratieaktivisten stellt sich die Frage: bleiben und ins Gefängnis gehen oder fliehen. Warum haben Sie sich für Letzteres entschieden?

Law: Als das Gesetz angekündigt wurde, wussten wir, dass wir, die "Nationalfeinde", das Hauptziel sind. Ich dachte, es ist wichtig, dass wir eine Stimme auf der internationalen Ebene haben; dass jemand mit einem bestimmten Profil für Hongkong spricht und die Welt davon überzeugen kann, eine härtere Gangart gegenüber China einzulegen.

"Stellen Sie sich vor, die österreichische Regierung verkündet, dass man ihr ab morgen nicht mehr widersprechen darf."

STANDARD: Verstehen Sie, aus Pekings Perspektive, dass gegen Sie ein Haftbefehl läuft?

Law: Ja natürlich, aus deren Perspektive verstehe ich das. Sie möchten einfach alle andersdenkenden Stimmen auslöschen, vor allem all jene, die Einfluss haben, nicht nur in der heimischen Politik, sondern auch im Ausland. Unsere hohe Bekanntheit macht uns daher zwar einflussreich, aber auch empfänglich für die Unterdrückung.

STANDARD: China hat einen beeindruckenden wirtschaftlichen Aufstieg hingelegt. Was ist so schlimm daran, dass Hongkong in das chinesische System integriert wird?

Law: Stellen Sie sich vor, die österreichische Regierung würde verkünden, dass man ab morgen nicht mehr wählen darf. Und man der Regierung nicht mehr widersprechen darf. Die eigenen Freiheiten zu verlieren ist ein fürchterlicher Gedanke. Das passiert aber in Hongkong. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendwen gibt, der das einfach so schlucken würde.

STANDARD: Sie müssen eine Situation ausbaden, die Generationen vor Ihnen verursacht haben. Wem geben Sie die Schuld?

Law: Ich gebe niemandem die Schuld ... wenn, dann der internationalen Community. Das globale System hat bei Hongkong versagt. Der Übergabevertrag mit Großbritannien, die Basis also für "Ein Land, zwei Systeme", ist ein internationaler Vertrag, der bei der Uno auf dem Tisch lag und von vielen demokratischen Ländern befürwortet wird. Wir haben gravierende Verstöße gesehen, aber trotzdem gab es eine lange Phase der Untätigkeit. Dafür kann nicht nur die britische Regierung verantwortlich sein, sondern die ganze Welt. Aktuell steigt das Bewusstsein in Bezug auf den chinesischen Autoritarismus. Aber das hätte vor langer Zeit passieren sollen. Wir haben die beste Chance verpasst, China zur Rechenschaft zu ziehen. Jetzt müssen wir umso klarer sein: Die chinesische Regierung ist ein Regime, das Versprechen nicht achtet. Sie hat ihre Versprechen gegenüber Hongkong nicht eingehalten. Wir müssen eine internationale Ordnung schaffen, die sie dafür zur Rechenschaft zieht.

STANDARD: Welche Rolle spielen die USA in dieser Forderung?

Law: Es geht nicht um eine Schlacht zwischen zwei Ländern oder einen Wettlauf zwischen zwei Hegemonialmächten. Es geht um die Verteidigung unserer globalen Demokratie, die sich seit zwei Jahrzehnten im Abschwung befindet. Wir sehen, wie sich die Dinge in Myanmar oder in Ungarn verschlechtern – an vielen Orten, die sich doch Richtung Demokratie bewegt haben. Der Aufstieg Chinas hat großen Anteil an dieser Entwicklung.

STANDARD: Die globale Gemeinschaft war bisher nie sehr erfolgreich darin, China zur Rechenschaft zu ziehen, siehe Tibet oder Xinjiang. Warum sollte das bei Hongkong anders sein?

Law: Es ist zu früh zu sagen: "Auf China Druck auszuüben funktioniert nicht." Wir haben es doch noch gar nicht versucht! Wir hatten bisher nur Beschwichtigungspolitik. China war deswegen so aggressiv, weil es die demokratische Tendenz zur Diversität ausnützt. Weil es die freie Gesellschaft ausnützt, um Desinformationen zu verbreiten. China kalkuliert die Dinge. Wenn es nicht von unseren Systemen profitieren kann, dann wird es sich ändern. Da bin ich mir sicher. (Anna Sawerthal, 5.7.2021)