Harry Kane spielt normalerweise bei Tottenham Hotspur. Mit dem Team bringt er seine Landsleute zum Träumen und seine Gegner zum Fürchten. Er dirigiere, schreiben sie, einen Hurrikan.

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Three Lions on a shirt
Jules Rimet still gleaming
Thirty years of hurt
Never stopped me dreaming
Lightning Seeds

Was für eine Geschichte! 1996 fand die Europameisterschaft in England statt. Die Lightning Seeds schrieben das EM-Lied. "Football’s coming home", sang man in den Stadien. Denn immerhin hatte ja der Gastgeber das schöne Spiel erfunden, ihm die grundlegenden Regeln gegeben und dann auf eine Reise um die Welt geschickt.

30 Jahre nach dem Heim-Weltmeistertitel, dem Gewinn der nach dem Fifa-Präsidenten Jules Rimet benannten Trophäe, sollten die drei Löwen endlich auch die EM-Krone erkämpfen. Ins Halbfinale kamen sie. Dort trafen sie auf Deutschland. Es ging ins Elfmeterschießen. In dem stand es schon 5:5. Dann lief ein gewisser Gareth Southgate an. Und er vergab. Der Fußball kam nicht heim. Er ließ sich in Deutschland nieder.

Neuer Anlauf

Jetzt, 25 Jahre danach, scheint – nach dem beeindruckenden 4:0 über die Ukraine in Rom – der Traum vom ersten Europameistertitel zum Greifen nah. Und der, dem diese Nähe vor allem zu verdanken ist, heißt Gareth Southgate. Das Halbfinale gegen Dänemark wird schon in Wembley gespielt. Und ganz London sang am Sonntag schon: "It’s coming home."

Gareth Southgate hat etwas Außergewöhnliches erreicht. Noch keinen Titel, das nicht. Aber er hat dem Land, in dem die stärkste Liga der Welt zugange ist, ein so starkes Team geformt, dass viele ihm den Titel zutrauen. Southgate ist seit 2016 Teamcoach. Bei der WM 2018 überraschte er mit einem erfrischenden Hoppla-da-samma-Fußball, der im Halbfinale in Belgien seinen Meister fand. Nun, bei der EM, hat er seiner Mannschaft einen sehr flexiblen Anzug verpasst.

Gegen Deutschland lief er mit drei Innenverteidigern dem alten Rivalen nicht ins Messer. Sondern der mit 0:2 ihm. Die Ukraine ist im Viertelfinale mit 0:4 geradezu versunken in der englischen Spielfreude. Das war nicht nur der höchste englische Turniersieg. Hinten steht immer noch die Null. Southgate lässt also nicht bloß offensiv spielen – ob wohl es angesichts des überragenden Raheem Sterling und des Vollstreckers Harry Kane so aussehen mag –, sondern fast perfekt. Dänemark muss sich also anstrengen.

Die bekannt zurückhaltende englische Tabloid-Presse nannte die Kicker – Heimkehrer und Heimbringer in einem – nach dem Erreichen des Semifinales "Semi-Gods". Die Queen kann da nicht mit. Sie wird im Fall des Falles mit dem Schwert warten, um Southgate zum schlichten Ritter zu schlagen.

"Wir haben nun", sagt der Halbgott-Trainer mit Blick aufs Halbfinale, "ein toughes Spiel vor uns, Dänemark hat uns im Oktober geschlagen. Die Erwartungen in England werden hoch sein, es ist das schwierigste Spiel, das wir bisher hatten."

Spirit

Sein Kapitän heißt Harry Kane. Und Angst vor den Erwartungen hat er nicht. "Erneut zu null und vier Tore – es war eine perfekte Nacht in einem großen Spiel für uns. Es wartet nun ein großes Match auf uns. Aber wenn wir die Dynamik aufrechterhalten, schaffen wir das auch." Southgate schwärmt: "Es gibt kaum Teams mit so einem Spirit. Und solche Spiele wie gegen die Ukraine bringen alle noch näher zusammen."

Das ist zweifellos eines der Rezepte dieser traditionell eher, nun ja: individualistisch gewesenen Mannschaft. Man versteht einander blind, nicht nur innerhalb, sondern vor allem zwischen den Formationen. Diese können nach Belieben das Tempo bestimmen. Die Ballsicherheit erlaubt lange Besitzphasen. Sprinter wie Raheem Sterling, "der von einem anderen Planeten kommt" (Gazzetta dello Sport), starten dann überraschend und überfallsartig von null auf hundert. Harry Kane steht dort, wo Sterling weiß, dass er gleich stehen wird.

Diese Engländer haben den Fußball nicht neu erfunden. Aber sie haben ihn, den sie ja erfunden haben, neuerlich perfektioniert. Schwedische Defensividee, deutsche Ballbesitzvorstellung, spanische Breite und die traditionell englische Tiefe: Football’s coming home. (Wolfgang Weisgram, 4.7.2021)