Längst ist das im 19. Jahrhundert entstandene Bild vom primitiven, groben und unkultivierten Neandertaler überholt. Genetische Analysen und archäologische Funde haben in den vergangenen Jahrzehnten viele Details über das Leben unserer ausgestorbenen nächsten Verwandten ans Licht gebracht und gezeigt, dass der Neandertaler dem modernen Menschen in vieler Hinsicht ähnlicher war als lange gedacht: Er bestattete Tote, feierte Feste, baute Werkzeuge und Waffen und nutzte womöglich bereits Heilpflanzen.

Die Einhornhöhle im Harz ist eine bedeutende Fundstätte.
Foto: unicorncave/Uni Göttingen/CC BY-SA 4.0

Nun berichten deutsche Wissenschafter von einem sensationellen Fund, der einen weiteren Einblick in die beachtlichen Fähigkeiten von Homo neanderthalensis erlaubt: Sie entdeckten in der Einhornhöhle im niedersächsischen Harz einen Riesenhirschknochen, der von einem Neandertaler vor mehr als 51.000 Jahren verziert worden ist – vermutlich zu Dekorationszwecken, wie das Team um Thomas Terberger (Uni Göttingen) und Dirk Leder (Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege) im Fachblatt "Nature Ecology & Evolution" berichtet.

Kreative Kerben

Bei Grabungen im Eingangsbereich der Höhle stieß das Archäologenteam auf zahlreiche Jagdbeutereste, darunter auch ein auf den ersten Blick recht unscheinbarer Fußknochen eines Riesenhirschs (Megaloceros giganteus). Bei näherer Untersuchung entpuppte sich das Fundstück aber als ausgesprochen ungewöhnlich: Es ist mit einem winkelartigen Muster aus Kerben verziert. "Wir erkannten rasch, dass es sich nicht um Schlachtspuren, sondern eindeutig um eine Verzierung handeln muss", sagte Leder, der die Grabung leitete.

Der sorgfältig verzierte Knochen aus der Einhornhöhle dürfte großen symbolischen Wert besessen haben, vermuten die Archäologen.
Foto: V. Minkus/NLD

Auf dem kompakten Knochenstück ist ein Muster aus sechs Kerben eingeritzt, im unteren Bereich gibt es vier weitere kurze Kerben. Der Knochen lässt sich hinstellen und hat eine "Schauseite", wie der Archäologe Terberger erklärte. Das Objekt sei ein Hinweis darauf, dass die Neandertaler ein ästhetisches Empfinden hatten. "Dies spricht für eine eigenständige Entwicklung der kreativen Schaffenskraft des Neandertalers", sagte Terberger.

Symbolträchtiges Tier

Für Studien-Koautorin Antje Schwalb von der Technischen Universität Braunschweig ist es kein Zufall, "dass der Neandertaler den Knochen eines eindrucksvollen Tieres mit riesigen Geweihschaufeln für seine Schnitzerei ausgewählt hat". Das Geweih des Riesenhirschs hatte eine Spannweite von bis zu vier Metern, der symbolische Wert eines Zierobjekts aus Überresten dieses mächtigen Tieres dürfte groß gewesen sein.

Micro-CT-Scan des Knochens mit markierten Kerben.
Grafik: A. Tröller-Reimer/D. Leder/NLD

Einfach war die Anfertigung des Objekts nicht. Um einen Vergleich anzustellen, führte das Forscherteam Experimente mit Fußknochen heutiger Rinder durch. Dabei stellte sich heraus, dass der Knochen wohl zunächst gekocht werden musste, um das Muster anschließend mit Steingeräten in etwa 1,5 Stunden in die aufgeweichte Knochenoberfläche zu schnitzen.

Der Zehenknochen mit dem Muster ist fast sechs Zentimeter lang, knapp vier Zentimeter breit und etwa drei Zentimeter dick. Im Leibniz-Labor für Altersbestimmung und Isotopenforschung der Universität Kiel wurde das Alter des Knochens mithilfe der Radiokarbonmethode bestimmt. Das Ergebnis: rund 51.000 Jahre. "Das hohe Alter des Neufundes aus der Einhornhöhle zeigt, dass der Neandertaler bereits Jahrtausende vor der Ankunft des modernen Menschen in Europa in der Lage war, Muster auf Knochen selbstständig herzustellen und wohl auch mit Symbolen zu kommunizieren", sagte Terberger.

Rätselhaftes Schicksal

In Frankreich wurden in der Vergangenheit von Neandertalern geschaffene mutmaßliche Schmuckobjekte gefunden, sie sind rund 33.000 Jahre alt. Aus Spanien sind einfache abstrakte Motive an Höhlenwänden bekannt. Der neue Fund aus der Einhornhöhle sei eine der ältesten und komplexesten bisher entdeckten künstlerischen Ausdrucksformen von Neandertalern, schreibt die Londoner Anthropologin Silvia Bello in einem Begleitkommentar zur Studie.

Homo neanderthalensis lebte etwa 400.000 Jahre auf dem europäischen Kontinent – weit länger als moderne Menschen. Warum unsere einst erfolgreichen Verwandten vor etwa 30.000 Jahren endgültig verschwanden, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Steckten Klimaveränderungen, Krankheiten, die zunehmende Konkurrenz durch Homo sapiens oder schlicht demografisches Pech dahinter? Übrig geblieben ist jedenfalls ein kleiner Prozentsatz ihrer DNA, die sich im Erbgut heutiger Europäer und Asiaten findet – mit sehr unterschiedlichen Folgen. Eine bessere Anpassung von Haut und Haar an ein Leben bei niedrigen Temperaturen gehört ebenso dazu wie ein erhöhtes Risiko, schwer an Covid-19 oder Typ-2-Diabetes zu erkranken. (David Rennert, 5.7.2021)