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Die besondere Nähe zu einem Kind kann mehrere Gründe haben. Vielleicht ähnelt man ihm charakterlich oder das Kind ist gerade in einer besonders liebenswerten Phase. Wenn das andere Kind deshalb aber vernachlässigt wird, sollten Eltern jedenfalls gegensteuern.

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"Du hast ihn ja viel mehr lieb als mich", wirft die Tochter dem Vater an den Kopf – und schon ist der Streit um die Liebe der Eltern in vollem Gange. "Für das Gefühl, dass Bruder oder Schwester bevorzugt werden, genügen schon Kleinigkeiten: scheinbar größere Geschenke, mehr Aufmerksamkeit oder der andere bekommt immer die Suppe zuerst", sagt der deutsche Erziehungsberater Joachim Armbrust. Im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" stellt er klar: Das Ideal der absoluten Gleichbehandlung lässt sich kaum erfüllen – weil jedes Kind anders ist und weil Eltern zu jedem eine andere Bindung haben. "Eltern sehen in ihren Kindern unterschiedliche Typen, die ihnen mal näher, mal weniger nah sind: Die schüchterne Mutter erkennt sich selbst in der zurückhaltenden Tochter wieder, die draufgängerische Ältere ist ihr vom Wesen her fremder." Kann es sein, dass sie ein Lieblingskind hat?

Die meisten Eltern würden die Frage nach einem Lieblingskind wohl entschieden zurückweisen. Auch die Userinnen und User hat sie kürzlich bei einem "Mitreden" empört. Wie könne DER STANDARD nur glauben, dass man ein Kind bevorzugen würde? Selbstverständlich habe man alle seine Kinder gleich gern, empfinde für alle eine große, einzigartige Form von Liebe. So in etwa klangen die ersten Aussagen im Forum.

Aber je länger man darin liest, umso differenzierter werden die Antworten. Die Kommentare zeigen, dass grundsätzlich zwar alle Kinder gleich geliebt werden, es bei vielen zeitweise aber sehr wohl Präferenzen gibt. Dafür ist nicht nur der Charakter der Kinder ausschlaggebend, sondern auch die Entwicklungsphasen, in denen sie sich gerade befinden. Eine Userin schreibt zum Beispiel:

Aber auch das Alter und damit die geistige Reife können eine Rolle spielen. So fühlt sich zum Beispiel ein User mit seiner älteren Tochter stärker verbunden, weil er schlichtweg mehr mit ihr anzufangen weiß:

"Vorübergehend oder phasenweise haben nahezu alle Eltern ein Lieblingskind, auch die, die es bestreiten", sagt der Familienforscher Hartmut Kasten. Der Erziehungsberater Armbrust sieht das genauso: Dass Eltern ein Kind bevorzugen, sei normal – "sie können gar nicht anders". Darauf lassen auch wissenschaftliche Studien schließen. In einer Befragung der University of California beispielsweise gaben 74 Prozent der Mütter und 70 Prozent der Väter zu, dass sie ein Lieblingskind haben. Die "International Business Times" berichtete über die Untersuchung, die im "Journal of Family Psychology" publiziert wurde. Die Studienautorin vermutet, dass eher die älteren Kinder die Lieblingskinder sind. Ein Befund, der überrascht – schließlich ist immer wieder vom "Verhätscheln" des Nesthäkchens die Rede.

Aber wie auch die Kommentare im STANDARD-Forum zeigen, kann sich die Präferenz immer wieder ändern und ist auch situationsabhängig. Zum Beispiel könne es vorkommen, dass Eltern mit dem mutigeren Kind im Schwimmbad mehr Spaß haben als mit dem ängstlichen, erklärt Experte Armbrust. Eine Bevorzugung kann aber auch daher rühren, dass die Geburt besonders schwierig war, dass vielleicht um das Leben des Kindes gerungen wurde. "So etwas prägt die Beziehung, und das merken auch die anderen Kinder." Manchmal sei auch eine ganz besondere Verbindung da, weil man einander eben charakterlich ähnelt.

Dieses Kind ist wie ich

Das kennt auch die Journalistin Caroline Rosales. Natürlich würde sie als Mutter sagen, dass sie ihre Kinder gleich liebt, schreibt sie auf "Zeit Online". "Doch noch während der Satz ausklingt, denke ich an das eine Kind, das ein ausgeprägtes Interesse an den Römern und Griechen hat. Wenn ich spätabends am Schreibtisch sitze und eigentlich schon Schlafenszeit ist, steht es plötzlich hinter mir und fragt aufrichtig interessiert: 'Warum konnte das Orakel von Delphi eigentlich die Zukunft voraussagen?' Oder: 'Gab es im Kolosseum antike Dixie-Toiletten?'" Sie, die selbst Archäologie als Nebenfach studiert hat, fange dann immer begeistert zu erzählen an. "Manchmal reden wir stundenlang, obwohl es viel zu spät ist. Irgendwann meldet sich dann Kind zwei, das auch noch nicht schläft, und beschwert sich: 'Nie redest du mit mir.'"

Wie reagiert man in so einem Fall als Mutter oder Vater? Armbrust rät davon ab, zu lügen und zu sagen: "Da irrst du dich, natürlich habe ich euch gleich lieb!" Denn das andere Kind merke ja den Unterschied. Ratsam sei, ihm die Situation zu erklären und zum Beispiel zu sagen: "Ich hatte bei der Geburt viel Angst um deinen Bruder, deswegen achte ich noch heute sehr auf ihn. Aber auf dich passe ich auch auf, habe aber das Gefühl, dass du viel mehr allein schaffst." Wichtig sei jedenfalls, dem Kind zu zeigen, dass es genauso wichtig für einen ist – auch wenn man anders mit ihm umgeht.

Wann es zu weit geht

In manchen Fällen kann die Bevorzugung aber auch zu weit gehen, wie der Familienforscher und Entwicklungspsychologe Kasten erklärt. "Wenn mal drei, vier Monate ein Kind bevorzugt wird, ist das sicher im Rahmen. Geht es über Jahre so, ist das zu viel", sagt er im Interview mit "Spiegel Online". Denn sich immer hintenangestellt zu fühlen ist natürlich schlecht für das Selbstwertgefühl – und hat damit auch Folgen für das spätere Leben. Immer nur die Stärken des einen und die Schwächen des anderen im Blick zu haben wäre demnach falsch.

Kasten rät Eltern zunächst zur "Selbsterkenntnis". Also dazu, sich überhaupt einzugestehen, dass sie ein Lieblingskind haben. Der zweite Schritt sei, bewusst einen Ausgleich zu schaffen, etwa indem sich der Partner mehr um das andere Kind kümmert. "Dann ist die Aufmerksamkeitswaage wieder etwas ausgeglichener", sagt Kasten. Eine andere Möglichkeit sei, exklusive Aktivitäten für das Kind zu planen, zum Beispiel einen Samstagsausflug zu zweit. "Oft sind es nur solche kleinen Justierungen, die das familiäre Gefüge intakt halten." (lib, wohl, 16.7.2021)