Über Renner werde immer wieder partei- und geschichtspolitisch gestritten werden, sagt der Historiker und Renner-Experte Michael Rosecker im Gastkommentar und erläutert, warum. Auch Historiker Alexander Pinwinkler hat Anmerkungen zu Renner. So gebe es etwa eine Einordnung im Salzburger Historikerbericht sowie eine Erläuterungstafel zum Straßenschild.

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Darum dreht sich die Salzburger Straßennamendebatte: Historiker haben 13 schwerbelastete Straßennamen in der Stadt ausgemacht.
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Berichte historischer Kommissionen wurden in Österreich in den letzten Jahren besonders brisant in geschichtspolitischen Auseinandersetzungen über nach historischen Personen benannte Straßen. Aktuell etwa in Salzburg. Hier zeigt sich jedoch, dass (gut gemachte!) Berichte solche Konflikte über historische Ambivalenzen nicht per se lösen können, da die Voraussetzung dafür die Akzeptanz der Ergebnisse der Kommissionsberichte wäre, und das ist nicht immer der Fall (siehe dazu die Gastkommentare "Selbstgerecht und einäugig" und "NS-Befreiung – einmal anders").

Gerade die Geschichte Österreichs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist jedoch von Ambivalentem geprägt, das in heutigen Debatten noch viele kaum aushalten. Ambivalenz, die Möglichkeit, ein Ereignis oder eine Person verschiedenen Kategorien zuordnen zu können, bereitet vielen Unbehagen. Vor allem, da es ein zentraler Anspruch der Moderne war, den Menschen Klarheit und Eindeutigkeit zu schaffen. Die großen Katastrophen damals fußten auch auf der Ahnung der Unerfüllbarkeit dieses Anspruchs und auf den Versuchen, dagegen mit allen Mitteln vorzugehen.

Pragmatischer Realpolitiker

Als Produkt des Ersten Weltkriegs war Österreich die staatgewordene Ambivalenz. Erfüllt mit Phantomschmerzen der "Schrumpfung" in Größe und Bedeutung, standen sich große Ideen des Fortschritts und der Reaktion unter einem für viele zu kleinen und fremden "Dach" gegenüber. Vertreten durch Repräsentanten, die kaum in der Lage waren, eine gemeinsame politische Kultur zu entwickeln. Die großen Widersprüche der Zeit bildeten sich an den Grenzen der beiden großen politischen Lager ab.

Einer, der seit der Monarchie das Widersprüchliche auszuhalten oder zu "vereinen" versuchte, war Karl Renner. Ob das einem strategischen Genie der Anpassung oder einem Opportunismus geschuldet war, darüber stritten Zeitgenossen und streiten Nachgeborene. Kompromiss, Kooperation, Entgegenkommen, schlaue Affirmation und/oder kluge Strategie, all das brachte ihm sowohl den Ruf des Brückenbauers als auch jenen des Opportunisten ein – von "Freund" und "Feind". Dennoch hatte er in seiner Rolle als großer politischer Intellektueller stets große gesellschaftliche Ziele im Kopf. In seiner Rolle als pragmatischer Realpolitiker in schweren Krisen entstanden seine Wege dorthin jedoch oft im Gehen. Diese Ambivalenz der unklaren Wege und des klaren Ziels befähigt, ein Maximum an Möglichem herauszuholen, verleitet aber auch dazu, die Grenzen des Tolerierbaren sehr weit zu ziehen.

"Auch die Sozialdemokratie war nicht davor gefeit, in ihrer antikapitalistischen Agitation auch antisemitische Klischees zu bedienen."

Zu einer Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen der Geschichte Österreichs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört vor allem jene mit dem Antisemitismus, der tief in die politische Kultur eingeschrieben war.

Auch die Sozialdemokratie war, obwohl gegen sie von jeher als "verjudete Partei" mobilisiert wurde, nicht davor gefeit, in ihrer antikapitalistischen Agitation auch antisemitische Klischees zu bedienen. Jedoch macht ein Studium der Partei- und Wahlprogramme, der Wahlkämpfe, der politischen Publizistik und vor allem der bürgerlichen (männlichen) Machtnetzwerke samt deren "Vereinsstatuten" sichtbar, bei welchen Parteien der Antisemitismus zum weltanschaulichen Kernelement und zur politischen Alltagspraxis gehörte: Das waren eindeutig die Deutschnationalen und die Christlichsoziale Partei.

Falsche Spuren

Einzelne Zitate kontextlos in die Debatte zu werfen führt hingegen auf falsche Spuren und versucht durch Gleichsetzung des Unterschiedlichen zu verwirren und zu relativieren. So müssten unzählige historische Personen von Bedeutung und mit großen Leistungen plötzlich ausschließlich als Negativ- oder Unpersonen aus dem Geschichtsverständnis entsorgt werden. Zudem ist es eine wichtige Frage bei der Bewertung einer historischen Person, welche inneren Antriebskräfte und Ideen sie leiteten. Ein Blick in Renners Werk zeigt vieles, auch Irrwege und Fehlentscheidungen, aber keine Grundorientierung an der Ausgrenzung von Menschen und Spaltung der Gesellschaft. Ob das über alle derzeit zur Diskussion stehenden Politiker behauptet werden kann?

Ebenso ist, wenn man über Renner spricht, neben der Erzählung der Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik gleichzeitig deren politisch-moralisches Legitimationsdefizit mitzuerzählen: der Umgang mit der österreichischen Mitverantwortung am Zweiten Weltkrieg, den Verbrechen des Nationalsozialismus und an der Shoah. Diese Ambivalenz war der Wiedererrichtung der Republik 1945 mit der von Renner maßgeblich verfassten Unabhängigkeitserklärung von NS-Deutschland (darin wurde die Shoah ausgespart) bis weit über den Staatsvertrag 1955 hinaus (in diesem wurde auf Intervention Leopold Figls auch die Mitverantwortung am Krieg getilgt) eingeschrieben. Ihre Ausblendung war ein breiter, mitgetragener Konsens der Verantwortungsträger.

Schatten ausleuchten

Die SPÖ hat sich ihrer Mitverantwortung an all dem gestellt. Auch mit Renners Widersprüchen hat man sich auseinandergesetzt. Können das die beiden anderen historischen politischen Lager auch von sich behaupten?

Eine Beschäftigung mit Renner wird weiterhin jenseits von Verdammung und Hagiografie notwendig sein. Für die Existenz (1918) und Wiedererrichtung (1945) der demokratischen Republik ist er maßgeblich verantwortlich, somit auch für ihre Verdienste und Mängel. Daher gilt es, seine Leistungen zu würdigen und die Schatten auszuleuchten; so wie es die Sozialdemokratie macht(e) und wie es Kommissionen in Wien und eben in Salzburg machten. Daher wird über Renner immer wieder partei- und geschichtspolitisch gestritten werden, wie es einer demokratisch-republikanischen Gedenkkultur gut ansteht. Alle und alles zu entsorgen, was dem heutigen Anspruch nicht standhält, räumte Zug um Zug die Geschichte der Republik aus und machte weder ihr Geschichtsverständnis noch ihre Verfasstheit besser. (Michael Rosecker, 7.7.2021)