Eine Ehe, die sich vor den Augen der Öffentlichkeit vollzieht: Adam Driver und Marion Cotillard als Künstlerpaar in Leos Carax’ "Annette".

Foto: Filmfestival Cannes

Wer Optimismus für die Zukunft ausstrahlen will, muss auch die Leistungen der Vergangenheit unterstreichen. Von daher war es eigentlich nicht verwunderlich, dass die feierliche Eröffnung des 74. Filmfestivals von Cannes am Dienstagabend zwischen Zuversicht und Nostalgie hin- und herpendelte.

Palmen-Gewinner wie Pedro Almodóvar oder der Südkoreaner Bong Joon-ho wiederholten Sätze wie "Das Kino wird weitergehen". Nach der Corona-Pause hörte sich das in der Salle Lumière fast wie ein abgemachtes Mantra an. Weniger schwelgerisch, dafür mit dem ihm eigenen Schmäh unterhielt Jurypräsident Spike Lee das Auditorium. Er habe nur eines zu sagen: "I wish I could speak French like Jodie Foster!" – tat’s und trat im leuchtend pinken Anzug schon wieder zur Seite.

Die US-Schauspielerin und Regisseurin wurde zum Auftakt mit der Ehrenpalme für ihr Lebenswerk ausgezeichnet und überraschte tatsächlich mit makellosem Französisch. Es war ein erster Gänsehautmoment: Fosters Karriere hatte 1976 in Cannes begonnen, als Martin Scorseses Taxi Driver mit ihr als minderjähriger Prostituierter hier den Hauptpreis erringen konnte – sie war damals erst 13 Jahre alt. In ihrer Dankesrede kam Foster auf den Film, der ihrem Leben eine neue Wendung verpasst hatte, zurück: "Es ist, als würde sich für mich nun ein Kreis schließen." Das war stimmig, selbst wenn man die Wahl Fosters vonseiten des Festivals für ein wenig strategisch hält: Lässt sich mit dieser Entscheidung doch auch gut vom Mangel an Regisseurinnen in der Auswahl ablenken.

Männliche Destruktivität

Mit dem Eröffnungsfilm setzte man in Cannes heuer auf jeden Fall ein Zeichen der Distinktion. Denn Leos Carax’ Musical Annette ist vieles, aber gewiss kein langweiliger Kompromisskandidat. Der französische Regisseur hat seit den 1980ern erst sechs Filme gedreht, er wurde am Ende allerdings stets seinem Ruf gerecht, ein echter Visionär zu sein. Zuletzt 2012 mit Holy Motors, einer Ode an die imaginären Möglichkeiten der Filmkunst, die auch vom Übergang ins digitale Zeitalter erzählt hat.

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Annette ist auf den ersten Blick eine tragisch verlaufende Liebesgeschichte, auf den zweiten aber auch eine Studie über Celebritytum und männliche Destruktivität (mit MeToo-Bezug). Adam Driver spielt einen Comedian namens Henry McHenry, der im grünen Bademantel auf Bühnen tritt, um sein Publikum mit Monologen über das Wesen des Humors aus der Reserve zu locken.

Er ist ein an US-Komiker wie Andy Kaufman erinnernder Rebell, übel gelaunt, voller Selbstzweifel, aber auch doppelbödig. Man weiß nicht so genau, ob er die Rolle des Entertainers hinterfragt oder doch nur ein wenig radikaler erfüllt als andere.

Liebe, Eifersucht, Unberechenbarkeit

Ann Desfranoux, eine von Marion Cotillard verkörperte Opernsängerin, ist sein künstlerisches Gegenteil – eine Sopranstimme, die für ihr Publikum stirbt, anstatt es wie er jeden Abend zu meucheln. Ihrer Liebe schreibt Carax diesen Widerspruch ein, der irgendwann in Eifersucht umschlägt. Er neidet ihr den Erfolg, verliert sich im Alkoholkonsum und seinem unberechenbaren Temperament, das sich auch durch die Geburt der gemeinsamen Tochter Annette nicht mäßigen lässt.

Trotz dieser archetypischen Konstellation bleibt Annette eine verblüffende, überraschungsreiche Erfahrung. Das liegt zuallererst am Zusammenspiel von Carax’ Stilbewusstsein und der Musik des Pop-Avantgarde-Duos Sparks, dessen ironisch-grelle Synthiepop-Variationen von Opern- und Musicalrepertoires den Film so oft zwischen Ernst und Unernst baumeln lassen, bis man als Zuschauer aufgibt, nach einer klaren Haltung zu suchen.

Mediale Anteilnahme am Ehedrama

Der musikalische Chor wird zum mal naiven, mal ahnungsvollen Kommentar eines Ehedramas, an dem die mediale Welt Anteil nimmt. Schreitet das Paar eben noch mit dem Refrain zum Song We Love Each Other So Much durch einen kitschigen Vintagewald, wird die Geburt des Kindes durch den Chor der Hebammen ("Breathe in, breathe out") zum lustvollen Begrüßungspop für Erdlinge.

Wobei es Erdlinge nur bedingt betrifft, denn Annette stellt sich als lebendiges Holzpüppchen heraus, was den hochstilisierten, fast ausschließlich in Studiokulissen gedrehten Film um einen weiteren V-Effekt bereichert. Carax’ Faible für das Groteske war zwar noch nie größer, doch wie durch ein Wunder verliert der Film auch seine Bodenhaftung nicht. In einem superben Finale demonstriert er dann, wo die Grenzen der Einbildungskraft und wo die wahren Abgründe liegen.

So darf es durchaus weitergehen. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, 7.7.2021)