Der Taliban-Sturm auf Qala-i-Naw hat am Mittwoch begonnen.

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Kabul –Trotz des Vormarschs der radikal-islamischen Taliban werden die US-Truppen in Afghanistan nach Angaben von Präsident Joe Biden bis Ende August abziehen. Biden verteidigte den raschen Truppenabzug. Die USA hätten nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ihre Ziele im Anti-Terror-Kampf "erfüllt", sagte Biden. Die US-Streitkräfte und Geheimdienste könnten zudem auch künftig einschreiten, sollte von Afghanistan wieder eine terroristische Gefahr für die USA ausgehen.

Er werde aber nicht "eine weitere Generation von Amerikanern in den Krieg in Afghanistan schicken", sagte Biden knapp 20 Jahre nach Beginn des US-Einsatzes am Hindukusch. "Wir beenden Amerikas längsten Krieg."

300.000 Sicherheitskräfte

Auf eine Journalistenfrage, ob eine Rückkehr der Taliban an die Macht "unvermeidbar" sei, antwortete der Präsident mit "nein". Afghanistan verfüge über 300.000 gut ausgerüstete Sicherheitskräfte und eine eigene Luftwaffe.

Die Taliban und afghanische Streitkräfte haben sich am Donnerstag am zweiten Tag in Folge heftige Kämpfe um die Provinzhauptstadt Qala-i-Naw geliefert. Über der Stadt in der nordwestlichen Provinz Badghis stiegen dicke Rauchwolken auf. Die Regierung schickte nach der Offensive der Taliban auf Qala-i-Naw hunderte Soldaten per Hubschrauber in die Region. Der britische Premier Boris Johnson gab den Abzug der meisten britischen Soldaten aus Afghanistan bekannt.

Unveränderte Lage

Das afghanische Verteidigungsministerium teilte in der Nacht auf Twitter mit, es habe hunderte Soldaten in die Stadt geschickt, um einen "groß angelegten Einsatz" zu starten. Am Mittwoch waren die Taliban in die Stadt mit etwa 75.000 Einwohnern eingedrungen, am Donnerstag befanden sie sich nach Angaben von Bewohnern noch immer in der Stadt. "Man kann sie auf ihren Motorrädern fahren sehen", sagte Aziz Tavakoli, ein Einwohner der Stadt. "Die Geschäfte sind geschlossen, es ist kaum jemand auf der Straße." Fast die Hälfte der Einwohner sei geflohen. Hubschrauber und Flugzeuge hätten die ganze Nacht hindurch Ziele der Taliban bombardiert.

Die Situation habe sich seit Mittwoch "nicht wirklich verändert", sagte Zia Gul Habibi, Vertreterin des Provinzrates von Badghis. Alle Bezirke der Stadt stünden unter der Kontrolle der Islamisten. Es gebe "sporadische" Kämpfe in der Stadt, und einige afghanische Sicherheitskräfte hätten sich den Taliban angeschlossen.

Gegenoffensive

Der Gouverneur von Badghis, Hamssamuddin Shams, bestätigte, die Miliz habe "ihre Angriffe in mehreren Teilen der Stadt wieder aufgenommen". Der Feind werde jedoch "zurückgedrängt und flieht". Am Donnerstag wurden nach Angaben des Leiters der Gesundheitsbehörden von Badghis, Abdul Latif Rostaee, zehn verletzte Zivilisten in das Krankenhaus der Stadt gebracht, darunter Frauen und Kinder.

Die Islamisten hatten am Mittwoch Berichten zufolge kurzzeitig mehrere Polizeireviere und Stützpunkte des Geheimdienstes eingenommen, wurden später jedoch wieder zurückgedrängt. Zudem hätten sie die Tore des Stadtgefängnisses geöffnet und hunderte Gefangene freigelassen. Die meisten wurden den Angaben zufolge später jedoch wieder gefangen genommen.

Die Kämpfe scheinen sich auch auf die Nachbarprovinz Herat auszuweiten, wo die Behörden einräumten, in der Nacht zwei Bezirke an die Islamisten verloren zu haben. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtete, die Taliban hätten die Menschen aus ihren Häusern vertrieben und einige Häuser geplündert oder niedergebrannt. Die Taliban haben bereits eine Reihe von Gebieten in Afghanistan unter ihre Kontrolle gebracht, bisher aber noch keine Provinzhauptstadt.

Internationaler Truppenabzug

Der Sturm auf Qala-i-Naw hatte am Mittwoch begonnen, nur wenige Stunden nach der Erklärung der US-Armee, dass der Rückzug aus Afghanistan zu 90 Prozent vollzogen sei. Auch der Großteil der britischen Truppen hat das Land inzwischen verlassen. "Ich werde den Zeitplan unseres Abzugs nicht offenlegen", sagte Premierminister Boris Johnson am Donnerstag im Parlament. Doch die meisten der 750 britischen Soldaten seien bereits abgezogen worden. Großbritannien bleibe Afghanistan verpflichtet. Er sei sich auch der Gefahren bewusst, die dieser Abzug bedeute. US-Präsident Joe Biden wollte sich am Donnerstag ebenfalls zum US-Truppenabzug äußern.

Seit Beginn des Abzugs der US- und Nato-Truppen im Mai haben sich die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und den Taliban massiv verstärkt. Beobachter befürchten, dass die Miliz nach dem vollständigen Abzug der internationalen Streitkräfte wieder die Macht in dem Land übernehmen könnte. Die Islamisten sind in vielen Landesteilen auf dem Vormarsch.

Der Chef der britischen Streitkräfte, Nick Carter, warnte am Donnerstag vor einem regelrechten Bürgerkrieg in Afghanistan, sobald alle ausländischen Truppen das Land verlassen haben. Es könnte in eine ähnlich prekäre Lage wie in den 1990er-Jahren rutschen. Dann würden die radikal-islamischen Taliban wieder Teile des Landes kontrollieren, wenn auch nicht ganz Afghanistan, so Carter. (APA, AFP, 8.7.2021)