Unweit der mittlerweile von Unbekannten beschädigten Gedenktafel sind bei Grabungen Schuhe, Kämme, Geschirr und einfacher Schmuck von ehemaligen Gefangenen entdeckt worden.

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Auch wenn das ehemalige NS-Lager im Grazer Wohnbezirk Liebenau mittlerweile historisch gut dokumentiert ist, so musste doch mit diesen neuen Funden gerechnet werden. Kürzlich wurde in diesem belasteten Areal bei Grabungen für eine neue Wohnanlage der Stadt ein Knochenfund eines NS-Opfers sichergestellt, dessen Schädeldecke ein Einschussloch aufweist.

Die Stadt Graz errichtet auf diesem sensiblen Bereich dieses Bezirkes, am Grünanger, Mehrparteienwohnhäuser.

Der Grazer Arzt Rainer Possert, der von Patienten, die er im Bezirk betreute, immer wieder auf die Möglichkeit menschlicher Überreste unter der Erde des ehemaligen Lagers – vor allem in den dortigen verfüllten Bombentrichtern – aufmerksam gemacht worden war, fordert seit Jahren, dass das gesamte Gebiet des ehemaligen NS-Lagers nach Opfern des NS-Terrors untersucht werden soll, ehe neue Projekte gestartet werden.

Bereits bei Grabungsarbeiten im Jänner 2021 wurden menschliche Knochenreste entdeckt. Und nun wurde eben auch eine Schädeldecke ausgegraben, die ein Einschussloch aufweist. Die erste Vermutung, es handelt sich womöglich um einen Fund der jüngsten Vergangenheit, erwies sich als falsch. Gerichtsmedizinische Untersuchungen ergaben, dass das Schädeldach mehrere Jahrzehnte alt sein und es sich um ein mutmaßliches Opfer eines Kriegsverbrechens aus dem Zweiten Weltkrieg handeln könnte.

Graz, ein Zwischenstopp auf dem Todesmarsch

In dem NS-Lager wurden 1945 jüdische Gefangene auf ihrem Todesmarsch Richtung Mauthausen inhaftiert, viele von ihnen wurden an Ort und Stelle ermordet. Nach dem Krieg wurden im Jahr 1947 insgesamt 54 Opfer, davon 32 mit Einschusslöchern im Kopf, exhumiert. In den Jahrzehnten danach wurde das Gebiet zum Teil als Grünfläche, zum Teil als Barackensiedlung genutzt, aber nie archäologisch untersucht.

Erst mit den Bauarbeiten für das Murkraftwerk 2017 wurden erste Dokumente entdeckt, allerdings noch keine menschlichen Überreste. "Der Verbleib vieler Opfer", sagt Rainer Possert, "ist tatsächlich noch ungeklärt."

Weitere Grabungen nötig

Possert hat mittlerweile auch die Gedenkinitiative Graz-Liebenau, gegründet. Es sei zu begrüßen, dass die Stadt Graz nun endlich "mit großer Gewissenhaftigkeit die menschlichen Knochenüberreste aufarbeiten ließ. Wir möchten jedoch darauf hinweisen, dass im Bereich des ehemaligen Lagers Liebenau weitere Verdachtszonen vorhanden sind und es auch bei weiteren baulichen Maßnahmen zu Wohnbauten immer wieder zu Zufallsfunden im Zusammenhang mit den Überresten aus dem ehemaligen Zwangsarbeiterlager kommen kann", sagt Possert. So seien etwa bei archäologischen Grabungen für die Errichtung der Erinnerungstafel umfangreiche Hinterlassenschaften von Opfern – Schuhsohlen, Kämme, Geschirr, einfacher Schmuck – gefunden worden.

Die auf Luftbildern erkennbare Verdachtszone setze sich von der Erinnerungstafel in nördliche Richtung fort. "Deshalb fordern wir als Gedenkinitiative, dass diese archäologische Grabung endlich – wie bereits im Frühjahr 2020 vom Kulturamt angekündigt – in Angriff und zu Ende geführt wird", sagt Possert. (Walter Müller, 8. 7. 2021)