Jorginho könnte auch am Sonntag im Finale gegen England der spielentscheidende Faktor sein.

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Ein Moment für die Ewigkeit: Jorginho schiebt seinen Elfer gegen Spanien locker rein.

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Jorginho war ein todunglücklicher Teenager von 17 Jahren, als er verzweifelt seine Mama anrief. Der Traum vom Profifußball, dem der gebürtige Brasilianer völlig allein in Italien nachjagte, schien in diesem Moment unerreichbar. Der Jugendliche weinte bitterlich am Telefon, er wollte nach Hause. Mutter Maria Tereza blutete das Herz, doch sie ließ sich nicht erweichen. Zu seinem Glück überzeugte sie Italiens heutigen EM-Helden zu bleiben. "Komm nicht zurück. Es mag sich schlimm anfühlen, aber du bist so kurz davor, deinen Traum zu realisieren, und das wird bald passieren", habe seine Mama ihm gesagt, erzählte Jorginho einmal.

Rund zwei Jahre zuvor war Jorge Luiz Frello Filho, wie der Mittelfeld-Star des FC Chelsea vollständig heißt, aus der brasilianischen Heimat nach Italien gegangen. Mauro Gibellini, der frühere Sportdirektor des italienischen Vereins Hellas Verona, unterhielt einige Hundert Kilometer von Jorginhos Heimatstadt Imbituba eine Fußballschule, auf die auch der junge Zauberfuß ging. Nach ein paar Jahren dort holte Gibellini ihn im Alter von 15 Jahren nach Verona. "Er hat eine starke Persönlichkeit, in einem Team ist er der Kommandant", beschrieb Gibellini seinen ehemaligen Schützling im Interview mit der Nachrichtenagentur AFP.

Mönche

Auch wenn Jorginhos Qualitäten früh erkennbar waren, tat er sich in der Nachwuchsakademie schwer. Heute blickt er mit gemischten Gefühlen auf die Zeit in dem alten Kloster zurück. "Es gab einen Ort für die Mönche und einen für die Schüler der Akademie", erinnerte sich Jorginho: "Es waren sechs von uns in einem kleinen Raum für eineinhalb Jahre, und wir bekamen 20 Euro pro Woche."

Irgendwann traf er auf den brasilianischen Torhüter Rafael Pinheiro, der für Verona spielte und dem er seine Geschichte erzählte. Durch Pinheiro wurde Jorginho bewusst, dass etwas falsch gelaufen sein muss. "Er ist ausgerastet, weil er meinte, es sei nicht richtig", sagte Jorginho, "dass ich ohne meine Familie und von 20 Euro in der Woche lebe."

Dies war der Moment, als er zum Telefonhörer griff und seine Mutter bat, heimkommen zu dürfen. Maria Tereza Freitas, die selbst Amateurfußballerin war, hatte ihren Filius aber nicht an den heimischen Stränden zum Fußball gebracht, um ihn nun gescheitert dorthin zurückkehren zu lassen. Es war ein Wendepunkt für Jorginho, er biss sich über die Jahre bei Verona bis in die Stammelf durch, ehe es 2014 zum SSC Neapel ging.

Neuer Pirlo

Dort wurde Jorginho unter der Führung seines Mentors Maurizio Sarri zum Top-Sechser, für den sich bald auch die Squadra Azzurra interessierte. Die Einbürgerung lief fix, die italienischen Wurzeln seines Vaters halfen: 2016 folgte das Debüt. Mittlerweile gilt er als "neuer Maestro" und legitimer Nachfolger des großen Andrea Pirlo.

Der heutige Nationaltrainer Roberto Mancini hatte sich zwar vor seinem Amtsantritt 2018 dafür ausgesprochen, nur gebürtige Italiener für Italien spielen zu lassen. Mittlerweile ist er aber froh, dass sich seine Meinung nicht durchsetzte. Jorginho entwickelte sich zum Weltklassemann. Als Sarri den Strategen vor drei Jahren mit zum FC Chelsea nahm, hatte es der einst Übersehene endlich auf die ganz große Bühne geschafft.

Am Gewinn der Champions League unter Teammanager Thomas Tuchel war er maßgeblich beteiligt. Doch spätestens seit dem EM-Halbfinale gegen Spanien, als er im Elfmeterschießen den entscheidenden Strafstoß unerhört locker verwandelte, ist auch Jorginho in aller Munde. Im Endspiel am Sonntag gegen England kann er auch etwas für seine eigene Reputation tun. "Wenn er die Europameisterschaft gewinnt", sagte sein Förderer Sarri, "ist er ein Kandidat für den Ballon d’Or." Dann wäre wohl erneut ein Anruf bei Mama fällig. (sid, hac, 9.7.2021)