Kunstkritiker können gefährliche Menschen sein, und mitunter leben sie auch gefährlich, zumindest in der Fiktion. Martin Walsers 2002 erschienener Roman Tod eines Kritikers macht diesen Umstand schon im Titel deutlich, überdies hat er den Bruch mit Marcel Reich-Ranicki besiegelt, der allzu deutlich mit der Romanfigur des Kritikers gemeint war, das alles hat dem Autor den Vorwurf des Antisemitismus und einen gehörigen Ansehensverlust eingebracht.

Solch problematische Folgen muss Hans Platzgumers Kurzroman Bogners Abgang natürlich nicht befürchten, es ist ja auch kein postmoderner Schlüsselroman: Hinter seinem Kritiker, der bei ihm (im Unterschied zu Walser tatsächlich) zu Tode kommt, verbirgt sich keine reale Person, die sich desavouiert fühlen müsste, es ist alles viel harmloser, vor allem subtiler. Und hier rächt sich auch kein beleidigter Autor, sondern eine Romanfigur zerbricht viel mehr an der Schuldfrage, als wirklich Täter sein zu können.

Eigentlich wäre damit schon alles gesagt. So schmal der Roman, so überschaubar sein Plot. Und doch, so einfach ist es nicht, das zeichnet gute Literatur nun einmal aus. Platzgumers Held Andreas Bogner, ein in Innsbruck lebender bildender Künstler, ist eigentlich kein Protagonist, der sich für ein aufsehenerregendes Attentat eignen würde. Und hier stehen auch nicht die Kränkung und die daraus resultierende Tat im Vordergrund, sondern was diese im Täter auslöst. Aber: Ist Bogner ein Täter? Haben wir es überhaupt mit einer "Tat" zu tun? Schon in Platzgumers Roman Am Rand (2016) ging es darum, ob der, der getötet hat, wirklich ein Mörder ist ...

Kunstkritik und Therapie

Hier ist es noch komplizierter. Alles beginnt mit einer abwertenden Kritik und einem Juryentscheid gegen den Künstler. Der sieht sich gekränkt, aber mehr noch in seinem Selbstverständnis als Künstler erschüttert. Einmal in der Woche geht er zum Psychotherapeuten, und er beginnt mit einer neuen Arbeit, für die er sogar das Experiment einer Nahtoderfahrung anstrebt, mit diesem Kunstprojekt erhofft er sich die Anerkennung des Kritikers Kurt Niederer. Doch der antwortet mit Häme, ja er führt in einer Radiodiskussion Bogner geradezu als zeittypisches Negativbeispiel in der Kunst vor, seine Werke seien zahnlos und bedeutungsschwanger, "nichts als die Zurschaustellung der eigenen Oberflächlichkeit".

Das sitzt und fordert heraus. Das Spannende ist dabei, dass Bogners Kunstprojekt, mit dem er eigentlich den Kritiker Niederer zu überzeugen hofft, gleichsam die vermeintliche Tatvorbereitung ist: Er zeichnet Waffen nach, bildet sie mit Kohle auf Papier ab, um mit diesen "Porträts aller bedeutenden Waffen" deren Mentalität sichtbar zu machen, vom Faustkeil bis zur Walther PPK. Eine solche hat er sich eigens von seinem Schwiegervater geliehen, und mit ihr will er sich an Niederer rächen. Was Bogner nicht weiß: Die Schusswaffe ist nur mit Platzpatronen geladen. Und dann ist sowieso die Frage, ob er den Kritiker auch getroffen hätte, denn der läuft in seiner Fluchtbewegung geradewegs vor ein Auto.

Es gibt also eine zweite ‚Schuldige‘, und auch sie möchte die Verantwortung übernehmen: eine junge Bregenzerin, die in Innsbruck studiert. Sie hat drei Aperol Spritz getrunken, und sie bleibt nicht stehen. Also Fahrerflucht. Wer aber hat nun getötet? "Ich bin ein vielfach gescheiterter Künstler", ist Bogner überzeugt, "der (...) ein Menschenleben auf dem Gewissen hat". Aber hat er?

Kränkung als Motiv

Platzgumer erzählt die Geschichte nicht linear, er rollt sie analytisch auf, setzt stückweise zusammen, was sich der Leser noch gar nicht vorstellen kann. Dadurch vermag er ihn zu überraschen, der Leser wartet nämlich darauf, dass die Tat endlich begangen wird, die Waffe liegt ja die ganze Zeit nicht nur sprichwörtlich auf dem Tisch, damit hält der Autor die Spannung am Leben. Und er erzählt aus mehreren Perspektiven, indem er in die auktoriale Erzählweise andere Erzählquellen einfließen lässt: Bogners "Arbeitsnotizen", die Protokolle therapeutischer Sitzungen, Sprach- und Textnachrichten seiner Frau.

Das macht den schmalen Roman auch formal so vielschichtig, ohne ihm Bedeutungsschwere anzudichten. Denn bei alldem geht es, und das mag ein wenig an Dürrenmatt erinnern, nicht um Rache und Gewalt, am Ende bohrt das Bewusstsein der Schuld, auch wenn diese irrational erscheinen mag, so wie die Kränkung als Motiv. Aber danach fragt sowieso keiner. "Man kann nur etwas nachtrauern, mit dem man glücklich war", sagt Bogner zu seinem Therapeuten. Das klingt resignativ und abgeklärt zugleich, ohne dass es eine Erklärung zulässt. Die Tat ist einfach geschehen, möchte man glauben. (Gerhard Zeillinger, 11.7.2021)

Hans Platzgumer, "Bogners Abgang". € 20,60 / 143 Seiten. Zsolnay-Verlag, Wien 2021