"Das Buch vom Mississippi beginnt in meinem Zimmer", schreibt Oswald Egger.

Foto: Imago

Oswald Eggers Bücher sind Kunstwerke der Sprache. Aus Neuschöpfungen, ungewohnten Wörtern und Begriffen der Geologie, Botanik oder Zoologie entwickelt er faszinierende Textgewebe. Es sind die großen philosophischen Themen, die ihn antreiben, die Phänomene des Seins, der Zeit und der Wirklichkeit. In seinem Buch Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt setzt er sich mit der Erinnerung auseinander und wirft Fragen nach ihrem Wesen auf: Woran erinnern wir uns? Was fließt ein in unsere Erinnerungen, wie verändern sie sich, und wo liegt die Grenze zwischen Vorstellung, Traum und der Erinnerung an etwas tatsächlich Stattgefundenes? Vom "Moiré der Erinnerungen", schreibt Egger, einem "Wogengewölle zwischen Grund und Ungrund, Strudelungen, Zerstreuungen und Häufungen selbstüberwälzter Vorwärtswellen, die vor dem ruhenden Auge vorüberziehen". Und er fragt nach der Wirklichkeit: "Ich träume davon, dies wirklich gesehen zu haben, jemand hat es mir vielleicht ins Auge gelegt, Aug um Auge – und was sehe ich?"

Der Mississippi mit seinen zahllosen Windungen, Zuflüssen, Seitenarmen, Sümpfen und dem mitgeschleppten Treibgut sowie den Veränderungen, die er durchläuft, bietet für das Erinnern eine unerschöpfliche Metapher: "Ich fühle den schnellend zähen Fluss der Zeit wie einen großen Mississippi, der mir vorschwebt, stromert und verschwimmt ..." Wortreich kreiert Egger immer neue Momentaufnahmen des Stroms, seiner Fauna und Flora und seiner Wassermassen: "Die springbreite Einsinkrinne ist mit donnerschäumendem Wasserschwall verblaikt, der sich zischend, gurgelnd zwischen den faulen Felsen durchsplitternd spatelt." Die Texte lassen an halluzinatorische Verfahren denken, bei denen ein Wort spontan ein nächstes hervorruft, das wiederum einen Strom assoziativer Worte auslöst, in dem Reales und Irreales sich eigentümlich vermengen.

Sinnliches Leseerlebnis

Zu den Besonderheiten des Buches gehört, dass viele der Textgewebe sich dem unmittelbaren Verstehen entziehen. Sie beschreiben etwas, das unbekannt ist oder das es vielleicht gar nicht gibt: "Ich sah sie von Ast zu Ast verpappt herabrollen und den lodernden Albern der Pappelfeuer folgen, und tauche durch ein Loch im Boden des Bootes, ohne Atem zwischen allen Wasserblasen zu suchen: Die Unterfläche der Wolken am Mississippi ..." Diese Eigenschaft der Dichtkunst, dass sie mit ihrer Sprache etwas hervorbringen kann, das es in Wirklichkeit gar nicht gibt, reizt das Unbewusste des Lesers zur Produktion eigener Bilder und stellt die Frage nach dem Sein: "Ich meine, woran erkenne ich das Eine an den Dingen, die keines sind?" Entsprechend verwirrend ist die strenge Gliederung des Buches. Die 386 Prosablöcke sind nummeriert und teilweise mit Verweisen versehen. Diese Ordnung findet jedoch keine Entsprechung in den Inhalten der einzelnen Blöcke, die nur selten räumlich und zeitlich in einem Zusammenhang stehen und sich vielmehr kreuz und quer durch den Fluss und die Jahreszeiten bewegen.

Der Band ist wunderbar gestaltet und bietet ein sinnliches Leseerlebnis. Die kolorierten Zeichnungen können in der Buchmitte sogar beidseitig ausgefaltet werden. Wie auf einer zoologischen Schautafel zeigen sie, dicht gedrängt, urtümliche Wassertiere, in zarten Farbschattierungen von Umbra über Ocker bis zu Grün und blassem Rot und vielfältig strukturiert. "Zeichnungen lassen mich besser das wirklich Gesehene unterscheiden vom allein Dazugedachten, das Deutungen erörtert und erklärt: ... Der Sehraum ist ruhig, nachgiebig, elastisch, anscheinend ..." Die Betonung liegt auf "anscheinend". Denn die Spannung zwischen Vorstellung, Traum und Wirklichkeit wird auch in den Bildern aufrechterhalten. Auf der Rückseite befinden sich feingezeichnete schwarz-weiße "Stulpengebilde". Auf weiteren Seiten bilden "geflachte Farbstreifen" und "vielknotige Stromfarbenbündel" in zunehmend engen Windungen rhythmisch-ornamentale Geschlinge.

Oswald Egger, "Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt".
€ 28,80 / 280 Seiten.
Suhrkamp, 2021

Schon für Mark Twain, den Egger im Ursprung seines Künstlernamens erwähnt, war der sich träge dahinwälzende unendlich breite Fluss ein Symbol der Initiation ins Leben. Und die Erinnerung führt auch bei Egger zurück in die Kindheit: "Das Buch vom Mississippi beginnt in meinem Zimmer." Immer wieder taucht in märchenhaften und auch verstörenden Zusammenhängen ein "Ich" auf: "und doch konnte ich die Fratze des Tiers erkennen an der versengten Mumie, und dass ich selbst es war ..." Die Erinnerung wandelt sich zu einer Suche nach dem Ich und der Erkenntnis dieses Ichs: "nämlich zwei Gesichter weiß ich: mein richtiges und ein zweites ..." So erscheinen die beschriebenen Landschaften des Mississippis als innere Landschaften: "Wenn ich den Mississippi sehe, war er vielärmelig, wie wenn etwas von mir mit im Wasser schwimmt und dass mein Bild davon auf mich zurück einwirke ..." (Ruth Renée Reif, 10.7.2021)