Oft sei die Produktion selbst heute noch sehr männerdominiert, sagt Denise Kratzenberg, Gründerin der feministischen Pornografieplattform Cheex.

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Sei es der Konsum von pornografischen Inhalten oder der Erwerb von Sexspielzeug: Die Erotikbranche boomt. Mit mehreren Milliarden Besucherinnen und Besuchern jährlich übertreffen die Top-Pornografieplattformen teilweise sogar Streamingdienste wie Netflix: so etwa Pornhub, das mehr als 40 Milliarden Aufrufe im Jahr 2019 aufwies. 2020 sollen es pandemiebedingt sogar noch mehr gewesen sein, wobei das Unternehmen aufgrund laufender Kontroversen rund um Missbrauchsdarstellungen keine Zahlen veröffentlichte.

Vor allem junge Generationen konsumieren pornografische Inhalte regelmäßig, oft sind sie einer der ersten Zugänge zur Sexualität. Die Besucher sind laut mehreren Studien viel öfter männlich, wobei die Zahlen stetig steigen. Zugleich zeigen beispielsweise die Verkaufszahlen von Sextech wie Vibratoren, dass auch bei Frauen reges Interesse an der Erotikbranche besteht. So stiegen die Verkaufszahlen von Sexspielzeug in den ersten Monaten der Pandemie in der D-A-CH-Region um rund 40 Prozent.

Ein Grund für die Geschlechterdifferenz dürfte wohl darin liegen, dass gängige Pornografie "eine sehr männlich geprägte, heteronormative Sicht auf Sexualität bedient", sagt Denise Kratzenberg, Mitgründerin des Berliner Start-ups Cheex, zum STANDARD. Das Pornografieunternehmen ist eines von vielen neuen Playern in der Branche, die feministische Pornografie anbieten.

Lust der Frau spiele "untergeordnete Rolle"

Oft werde in der Mainstream-Pornografie das gezeigt, was heterosexuellen Männern gefallen könnte oder wovon angenommen wird, dass es das täte, kritisiert sie. Die Lust der Frau spiele dabei eine "untergeordnete Rolle", so Kratzenberg. Auch Männer würden davon unter Druck gesetzt – sie erhielten so die Rolle als "Dauer-Performer" zugeschrieben.

Die Sexualtherapeutin Nicole Kienzl sagt zum STANDARD, dass eines der Hauptthemen in ihrer Praxis die Lustlosigkeit von Frauen sei: "In diesem Fall finde ich die Pornografie besonders hilfreich, weil sie enttabuisiert und Fantasien anregt." Dabei würden besonders pornografische Inhalte, die speziell für Frauen produziert wurden, helfen. Sie würden sowohl Frauen als auch Männer erregen – anders als die meiste geläufige Pornografie. Gängige pornografische Darstellungen zeigen oft zu viele Nahaufnahmen von Geschlechtsteilen, sagt Kienzl, was für Frauen weniger erregend sei. Außerdem würden "Frauen oft ‚dümmlich‘ und willenlos dargestellt", so die Sexualtherapeutin.

Machtverhältnisse

Häufig werden in pornografischen Darstellungen Machtverhältnisse gezeigt, in denen die weiblichen Darstellerinnen unterwürfig gegenüber den männlichen sind. Kienzl zufolge sei es in ihrer Erfahrung häufig so, dass Frauen "Unterwerfungsfantasien" haben. "Das, was in einer Fantasie erregt, ist nicht mit tatsächlichen Wünschen gleichzusetzen", gibt sie zu bedenken. So würden heterosexuelle Frauen etwa auch lesbische Pornografie ansehen oder Darstellungen von Sex mit Fremden.

Auch Pornos, die gestellte Vergewaltigungen zeigen, sind nicht unpopulär. In Beziehungen strebe man aber Gleichberechtigung, Gleichgewicht und Fairness an. Umgekehrt verhalte es sich beim Sex. "Machtspiele, Verführung und Manipulation sind wesentliche Merkmale. Leider werden derartige Wünsche oft aus Angst oder Schamgefühl verschwiegen." Der leichtere Zugang zu Pornografie hätte die Selbstbefriedigung gerade auch bei Frauen gesteigert – trotzdem "kommen Frauen in der Pornobranche noch immer viel zu kurz", sagt Kienzl. Die selbstbewusst gelebte Lust der Frau sei auch heute – im Gegensatz zu jener der Männer – immer noch alles andere als selbstverständlich.

Zugänglichere Pornografie für alle

Dennoch werde durch die Enttabuisierung von Sexshops, Sexspielzeug, Pornos und erotischer Literatur die Sexualität für Frauen insgesamt zugänglicher gemacht. Das Aufkommen von Firmen wie Cheex zeigt zudem einen Trend hin zu feministischer Pornografie: "Es ist wichtig, dass das nicht als Pornografie für Frauen zu verstehen ist", sagt Kratzenberg. "Es geht vielmehr darum, dass nicht ausschließlich die männliche Sicht berücksichtigt wird. Feministische Pornografie bedeutet eine diverse, abwechslungsreiche, nichtdiskriminierende Darstellung von Sexualität und Intimität." Das heiße: verschiedene Körpertypen, unterschiedliche Begehren und diverse Sexualitäten ohne Stereotypen und Klischees.

Pornografie sei nicht grundsätzlich schlecht – "aktuell wird alles über einen Kamm geschoren", sagt Kratzenberg. "Viele negative Aspekte, die der Pornografie zugeschrieben werden, bestehen besonders gut im Verborgenen – dort, wo Pornografie aktuell noch stattfindet." In den vergangenen Monaten gerieten viele bekannte Pornografieplattformen, allen voran Pornhub, massiv in Verruf. Pornhub wird vorgeworfen, zu wenig zu tun, um Inhalte, die Missbrauch darstellen, zu löschen. Gerade vonseiten der großen Anbieter existieren kaum Kontrollmechanismen, die die Arbeitsbedingungen in der Branche prüfen. Das führt unter anderem zu sexueller Ausbeutung – vor allem der Frauen – in der Industrie. Das zeigten in den vergangenen Jahren Skandale um Produktionsstudios wie Girls Do Porn und Czech Castings, die Aufnahmen gegen den Willen von Darstellerinnen ins Netz stellten.

Diversität gefragt

Aus Sicht von Kratzenberg handle es sich bei Sexismus um ein strukturelles Problem, das sich in fast jeder Industrie fände – allerdings gebe die "Illegalität und Unsichtbarkeit der Pornobranche solchen Vorfällen Raum, da wenig Möglichkeiten bestehen, Vorfälle zu melden".

Oft seien Produktionen zudem sehr männerdominiert. "Mehr Diversität am Set kann dazu beitragen, dass ein gleichberechtigtes Klima entsteht." Um die Verbreitung problematischer Inhalte bei Cheex zu verhindern, würden keine Darstellungen erlaubt, die von Nutzern hochgeladen werden und auch missbräuchlich sein könnten. Stattdessen werde der Content von dem Team geprüft, auch sei der persönliche Kontakt zu Darstellern wichtig. Um sich zu finanzieren, setzt das Start-up auf ein Abomodell.

Krasser Gegensatz

Der einfache Zugang zu Pornografie im Netz hat Kienzl zufolge Sexualität bei Jüngeren zwar enttabuisiert und veralltäglicht. Allerdings führe er auch zu einer Übersexualisierung der Gesellschaft, die sich durch Druck, Stress und unrealistische Erwartungshaltungen manifestieren könnte. Die Sexualisierung stehe zudem im "krassen Gegensatz zur sexuellen Praxis", so Kienzl. "Der Beischlaf ist rückläufig, und die Masturbation nimmt zu." (Muzayen Al-Youssef, 4.8.2021)