Sie treten bei Gedenkfeiern auf, in Dokumentationen und Klassenzimmern: Menschen, die die wohl dunkelste Zeit unserer Geschichte erlebt haben. Wenn sie von der Nazizeit erzählen, lassen sie aus Zahlen und Daten Menschenleben werden und malen die Geschichte, die wir nur von Schwarz-Weiß-Fotos kennen, in unseren Köpfen mit dunklen Farben nach. Kurz: Sie machen Geschichte erlebbar.

Doch in absehbarer Zeit wird damit Schluss sein – denn die letzten Zeitzeugen blicken langsam ihrem Lebensende entgegen. Wie viele Holocaustüberlebende es noch gibt, lässt sich nur schätzen. Nach Angaben des Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus leben heute noch rund 3800 in Österreich.

Dass Zeitzeugen so wichtig für die Aufarbeitung des Holocaust sind, war nicht immer so. In der Nachkriegsgesellschaft haben ihre Erzählungen jahrelang nur eine untergeordnete Rolle gespielt. "Wenn wir von der Zeitzeugenschaft sprechen, glauben wir, sie beginnt nach Kriegsende. So war das nicht", sagt Heidemarie Uhl, Zeithistorikerin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Erst seit den großen Gerichtsprozessen in den 1960er-Jahren, wie etwa dem Eichmann-Prozess und den Auschwitzprozessen, traten Holocaustüberlebende zunehmend als Zeugen in Erscheinung.

Augmented Reality soll die Lücken, die Zeitzeugen hinterlassen, schließen.
Foto: WDR / Julius Krenz

Ein Umdenken gab es außerdem in den 1980er-Jahren. Individuelles Erzählen von Holocaustopfern wurde immer wichtiger; das Zeitzeugengespräch zum Königsweg der Geschichtsvermittlung. Nicht nur für das Gedenken sind ihre Erinnerungen relevant, sondern auch, um historische Ereignisse zu rekonstruieren. "Durch Zeitzeugenberichte können wir eine Opferperspektive einnehmen", sagt Uhl. Oft gebe es zwar Polizeiberichte, etwa zu den Transporten vom Wiener Aspernbahnhof in Vernichtungsorte. "Ohne Zeitzeugen wüssten wir aber nicht, was in den Wagons geschehen ist."

Wie werden kommende Generationen über den Holocaust lernen? Bleiben ihnen nur statische Ton- und Videoaufnahmen? Nicht nur. Drei Visionen, wie die Zukunft der Zeitzeugen aussehen könnte.

Zeitzeugen-Vision 1: Schauspieler mimen

Auf Instagram bekommt man derzeit Einblicke in Sophie Scholls Alltag: Auf dem Profil @ichbinsophiescholl folgt man der Widerstandskämpferin dabei, wie sie Liebesbriefe an ihren Freund Fritz schreibt, der an der Front im Russlandfeldzug dient. Oder wie sie mit ihrem Bruder Hans Flugblätter anfertigt. Dabei handelt es sich freilich nicht um Aufnahmen der echten Scholl, die einst mit der Gruppe Weiße Rose versuchte, gegen die Hitler-Diktatur zu kämpfen. Es ist die Schweizer Schauspielerin Luna Wedler, welche die 21-jährige Scholl spielt.

Das Projekt der deutschen Fernsehsender SWR und BR möchte die letzten zehn Monate im Leben der Widerstandskämpferin nachempfinden. Gedreht wird an Schauplätzen, die für das Leben der historischen Figur Scholl wichtig waren: etwa am Lichthof der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, dem Ort der Verhaftung Scholls.

Selfie von Sophie Scholl: SWR und BR erzählen die Geschichte der Widerstandskämpferin auf Instagram nach
Foto: WDR / Rebecca Rütten

Die Projektverantwortlichen von "ichbinsophiescholl" legen offen, dass es sich dabei um "an wahren Begebenheiten orientierte Fiktion" handelt, die "historische Lücken kreativ schließt".

Uhl sieht darin keine Gefahr der Geschichtsverfälschung, weil das Projekt eines von vielen sei, die sich mit dem Holocaust in zeitgemäßer Ästhetik beschäftigten und ganz offensichtlich Fiktion seien. Für die Zeithistorikerin ist es der gelungene Versuch, Jugendliche in den Medien abzuholen, wo sie sind: auf Instagram. Denn: "Die Herausforderung des Gedenkens ist, Geschichte lebendig zu erhalten und für jede Generation zu übersetzen."

Neu ist die Idee nicht: Mit dem Projekt "Evastories" inszenierte der israelische Regisseur Mati Kochavi 2019 mit einer Webserie auf Instagram das Leben der Eva Heyman aus Ungarn. Heyman wurde als 13-Jährige in Auschwitz ermordet. In 70 Instagram-Storys kann man Heymans Alltag bis zu ihrer Deportation folgen. Dort enden die Videoaufnahmen und münden in textlastige Erklärvideos.

Uhl hält solche Projekte für eine von vielen Möglichkeiten, junge Menschen mit dem Holocaust vertraut zu machen. Wichtig sei die Offenlegung der Quellen, mit denen gearbeitet werde. "Das wäre die Idealumsetzung", sagt die Historikerin.

Zeitzeugen-Vision 2: Hologramme und Augmented Reality konservieren

"Ich war sieben Jahre alt, als mich die russische Armee aus dem Vernichtungslager Majdanek in Polen befreit hat", erzählt der Holocaustüberlebende Pinchas Gutter einem Museumsbesucher. Die beiden treffen nicht persönlich aufeinander: Gutter erscheint als dreidimensionale Videoinstallation im New Yorker Museum of Jewish Heritage. Anthropomorphe Hologramme, dreidimensionale Darstellungen von Menschen, kennt man bisher nur aus Science-Fiction-Filmen. Zeitzeugen könnten aber bald wirklich mithilfe von Hologrammen mit der Nachwelt sprechen.

Pionierarbeit hat hier das Institute for Creative Technologies (ICT) und die Shoah Foundation an der University of Southern California geleistet. Die 1994 auf Initiative von Steven Spielberg gegründete Stiftung verfügt laut eigenen Angaben über 54.000 Audio- und Videoaufnahmen von Holocaustüberlebenden. Für moderne museale Settings reichten diese offenbar nicht mehr aus: 2010 hat die Organisation das Projekt "New Dimensions in Testimony" gestartet.

Der belarussische Holocaust-Überlebende Matus Stolov wird für die Nachwelt holografiert.
Foto: USC Shoah Foundation

Die Idee: Anstatt nur Videos ablaufen zu lassen, sollen Museumsbesucher mit den virtuellen Zeitzeugen in Dialog treten können, als würden sie direkt vor ihnen sitzen. 23 Holocaustüberlebende wurden mit einer speziellen Rundkameratechnik aufgenommen. Ihnen wurden über 1000 Fragen gestellt, ihre Antworten aufgezeichnet. Der 1929 in Wien geborenen Auschwitz-Überlebenden Eva Schloss – auch als Anne Franks Stiefschwester bekannt – kann man so zum Beispiel Fragen zu ihrem Leben stellen. Mittels Spracherkennungssoftware kann Schloss darauf antworten. Auf die Frage etwa, was sie in ihrem Leben glücklich gemacht hat, sagt Schloss: "Eine Familie zu gründen."

Um virtuellen Zeitzeugen zu lauschen, muss man nicht unbedingt ins Museum. Neben Hologrammen holen auch Augmented-Reality-Apps Zeitzeugen in das Hier und Jetzt. Reale Räume werden dabei mit digitalisierten Aufnahmen erweitert, und Zeitzeugen erscheinen in Form von 3D-Simulationen. Wie zum Beispiel in der App "AR 1933-1945" des deutschen Fernsehsenders WDR: Zeitzeugen erzählen ihre Geschichte, als wären sie mitten im Raum; Funken sprühen, wenn sie von fallenden Bomben berichten.

Diese virtuellen Zeitzeugen sieht Heidemarie Uhl "ambivalent". Was Zeitzeugen ausmache, sei die Möglichkeit, ihnen zu begegnen. Hologramme seien ein spannendes Experiment. Die Begegnung mit den realen Personen könnten sie aber nicht ersetzen, sagt die Historikerin. Dass virtuelle Zeitzeugen bald in allen Holocaust-Museen auftreten werden, glaubt Uhl nicht. Stattdessen würden Museen Orte der Begegnung bleiben – mit Objekten und anderen Menschen.

Zeitzeugen-Vision 3: Jüngere Generationen tradieren

Erinnern.at, das Holocaust-Education-Institut des Bildungsministeriums, arbeitet mit Zeitzeugengesprächen – noch. Schulbesuche von Zeitzeugen haben das Ziel, den Holocaust für jüngere Generationen nachvollziehbar zu machen. Die Arbeitsgruppe "Zukunft der Zeitzeugenschaft" forscht bereits daran, wie man jungen Menschen auch ohne Treffen mit Holocaustüberlebenden Geschichte vermitteln kann. Ein möglicher Ansatz sind Gespräche mit Nachkommen. "In den letzten Jahren haben wir Anfragen von Zeitzeugennachkommen erhalten, die die Geschichte ihrer Eltern erzählen wollen", sagt Patrick Siegele, Geschäftsführer von Erinnern.at.

Sogenannte "Zeitzeugen" tragen die Geschichten von Zeitzeugen weiter.
Foto: Zweitzeugen e. V.

Der deutsche Verein Zweitzeugen e.V. wählt einen ähnlichen Umgang, um persönliche Treffen zu ersetzen. Junge Menschen sollen sich durch Workshops, Ausstellungen und Zeitzeugeninterviews Überlebensgeschichten aneignen und selbst weitergeben. Sie werden dadurch zu sekundären Zeugen oder "Zweitzeugen". Mitmachen kann jeder – etwa über die Website werde-zweitzeuge.de, welche die Geschichte des Holocaustüberlebenden Rolf Abrahamsohn multimedial erzählt.

Dass sekundäre Zeugen Überlebensgeschichten, die sie nur gelesen haben, weitererzählen, hält Uhl für eine Sackgasse. Stattdessen sollten junge Menschen Wissen über den Holocaust gemeinsam erarbeiten, etwa in Workshops. Um Verfälschungen bei generationsübergreifender Geschichtsvermittlung zu vermeiden, braucht es historisches Hintergrundwissen, sagt die Zeithistorikerin.

Die Befürchtung, dass sich unser Erinnern mit dem Ableben der Zeitzeugen ändert, teilt Uhl. Für sie stellen Zeitzeugen ein Korrektiv dar. "Bei Gedenkfeiern ist ihre Anwesenheit ein Ankerpunkt. Die Gestaltung muss ihrer Opferperspektive gerecht werden. Wenn Zeitzeugen nicht mehr da sind, nimmt unser Erinnern andere Perspektiven ein", sagt die Historikerin.

Zeitzeugen werden nicht verschwinden. Was bleibt, ist ihre Stimme, die Ton- und Filmaufnahmen bleiben erhalten. "Aufgrund vieler Interviewprojekte ist das Vermächtnis der Zeitzeugen heute so präsent wie noch nie", sagt Uhl.

Fehlen wird aber die Möglichkeit, ihnen persönlich zu begegnen. Daher hält Uhl historische Orte des Holocaust und Gedenkstätten für zunehmend wichtig. "Diese Orte sind Träger unserer Erinnerung, die wir mit Zeitzeugen verbinden." (Allegra Mercedes Pirker, 10.7.2021)