Das Ansehen von Englands Coach Gareth Southgate wuchs in den vergangenen Wochen auf Überlebensgröße.

Foto: AFP/ GLYN KIRK

London – "O, O, O!" Im Wembley-Stadion hatten die englischen Spieler mit den Fans um die Wette gegrölt. Die nicht immer lupenrein melodisch, aber aus tiefster Seele kommende Interpretation von Neil Diamonds Evergreen Sweet Caroline erfreute die Zuschauer noch lang nach Abpfiff des Halbfinales gegen Dänemark. "Gute Zeiten haben sich nie so gut angefühlt" – die Textzeile sprach Millionen von Engländern aus dem Herzen, nachdem ihre Mannschaft zum ersten Mal seit 55 Jahren das Finale eines großen Fußballturniers erreicht hatte.

Seit der Euphorie vom Mittwochabend haben die Erwartungen stetig zugenommen. Wurden das Nationalteam und sein sympathischer Cheftrainer Gareth Southgate am Donnerstag noch als "History Boys" (Daily Telegraph) gefeiert, die "Finally" (Daily Mirror) ein Endspiel erreicht hatten, bündelte The Times am Freitag die Hoffnung der Nation: "Southgate könnte dem Land einen freien Tag verschaffen." Tatsächlich dürfen nicht nur Schulkinder am Montag zwei Stunden später als sonst aufstehen, um verlorengegangenen Schlaf aufzuholen. Allen Ernstes schürt die Regierung auch die Erwartung auf einen offiziellen Feiertag, sollte am Sonntagabend Italien bezwungen werden.

Buhmann der Nation

England träumt. Ob im eigenen Land wie bei der WM 1966 der Titelgewinn gelingt? "Football’s coming home", sangen die Fans vor einem Vierteljahrhundert, als die EM im Mutterland des Fußballs gastierte. Alle hochfliegenden Träume endeten jäh in jener Juni-Nacht 1996, als im Halbfinale der deutsche Keeper Andreas Köpke den letzten englischen Elfmeter hielt. Der unglückliche Schütze damals hieß Gareth Southgate, er wurde zum Buhmann der Nation. Jetzt steht der Teamchef kurz vor dem Ritterschlag, ja vor der Heiligsprechung.

Die Anbetung des 50-Jährigen kennt schon vor dem erhofften Finalsieg kaum Grenzen. Immer wieder ist von seiner "emotionalen Intelligenz" die Rede. Übersetzt bedeutet das: Southgate leidet weder an der sehr englischen Arroganz noch an Minderwertigkeitsgefühlen. "Milde, geduldig, ernsthaft", so kennzeichnete ein Times-Porträt den Fußballlehrer und dichtete ihm augenzwinkernd beinahe übermenschliche Fähigkeiten an: Der Herr im gut geschnittenen Anzug gleiche "einem zugeknöpften Sekundarschullehrer, der eine richtig kluge und fesselnde Stunde Sexualkundeunterricht erteilt". Der dazugehörige Leitartikel lobte die "ansteckende Bescheidenheit" und "Belastbarkeit" des Trainers.

Hervorragender Leader

Southgate gilt vielen Kommentatoren als vorbildlich – und das in einem Land, das nicht erst seit der Corona-Pandemie mit seinen Eliten hadert. Der frühere Nationalmannschaftskapitän Gary Neville brachte es im TV-Sender ITV auf den Punkt. Der Standard der Führungskräfte im Land in den vergangenen zwei Jahren sei ja ziemlich schlimm gewesen. "Aber Gareth Southgate ist ein hervorragender Leader."

Der Euphorie im Wembley-Stadion hatte nicht einmal Abbruch getan, dass der mit dieser indirekten Schelte bedachte Premierminister in viel zu engem England-Jersey mit dunkler Anzugjacke erschien. Das gutmütige Publikum ignorierte einfach Boris Johnsons verzweifelte Versuche, sich als Fußballfan zu gerieren. Ohnehin wissen alle, dass sich der typische Oberschicht-Engländer mehr für Rugby und Cricket interessiert als für den auf der Insel einst als Proletensport geltenden Fußball.

Für manche TV-Zuseher mischte sich angesichts des verkleideten Regierungschefs ein bitterer Beigeschmack in die Begeisterung. "Natürlich will ich England siegen sehen", berichtet der altgediente Fußballfan John Biggins, Autor des amüsanten Buches Skimpton Compendium. "Aber gleichzeitig denke ich: Das reklamiert dann Johnson für sich, und auf der Straße grölen die Deppen ‚Rule Britannia‘ und reden vom Brexit."

Tatsächlich hat der EU-Austritt das Königreich politisch mittendurch gespalten, Umfragen zufolge kann von Heilung keine Rede sein. Ob Southgate und seine Spieler das Unmögliche schaffen? Immerhin vereinigen sich hinter dem roten Georgskreuz auf weißem Grund, der Fahne Englands, längst nicht mehr ausschließlich patriotische Konservative. Das multiethnische Team mit politisch engagierten Spielern wie Marcus Rashford von Manchester United und Raheem Stirling von Manchester City hat auch viele Linke beeindruckt, analysiert die Labour-nahe Politikberaterin Scarlett MccGwire. "Die stehen gegen Intoleranz, auf die können wir stolz sein", sagt die junge Muslima Shaista Aziz.

Charme des Erfolgs

Dass Southgate und seine Spieler in Solidarität mit der Anti-Rassismus-Kampagne vor jeder Partie das Knie beugen, hat in den vergangenen Monaten zu heftigen Debatten und Buhrufen geführt. Inzwischen kann sich sogar die stramm rechte Innenministerin Priti Patel dem Charme des erfolgreichen Teams nicht entziehen. Da geht es ihr wie Johnson im Duell mit Rashford. Mitten in der Pandemie zwang der Sohn einer alleinerziehenden Mutter von fünf Kindern die Regierung zu höheren Sozialhilfezahlungen an die Ärmsten des Landes.

Dass Auswechselspieler wie Rashford oder Flügelflitzer Jack Grealish mit den Stammleuten um Kapitän Harry Kane, Motor Kalvin Phillips und Abwehr-Recke Harry Maguire eine Einheit bilden, hat in England zum Gefühl von Einigkeit beigetragen. Am Sonntag wird unter der Anleitung von "sweet Gareth" wieder gefeiert. "O, O, O!" (Sebastian Borger aus London, 10.7.2021)