Der Lobautunnel ist ein Milliardenprojekt im Spannungsfeld von Verkehr, Klimaschutz und Stadtplanung.

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Beim Friedhof der Namenlosen soll es losgehen. Nur etwa einen Kilometer von der Gedenkstätte für unbekannte Tote entfernt, die hier nahe Schwechat bis 1940 von der Donau angeschwemmt worden sind, sollen die beiden mächtigen Tunnelröhren in den Untergrund abtauchen. Dann geht es unter dem Alberner Hafen durch, der Friedhof wird knapp nicht passiert. Die Donau wird unterquert, dann der Ölhafen Lobau sowie der anschließende Nationalpark samt dem Donau-Altarm Groß-Enzersdorf. Bis zu 60 Meter geht es in die Tiefe. Nach 8,2 Kilometern sollen die Röhren wieder auftauchen.

Ökologisch hochsensibles Gebiet

Mit dem Milliardenprojekt Lobautunnel durch ökologisch hochsensibles Gebiet hindurch soll der letzte Teil des Autobahnrings um Wien geschlossen werden. Der Ring ist insgesamt 195 Kilometer lang und reicht bis nach St. Pölten. Nur die S-1-Strecke zwischen Schwechat und Süßenbrunn fehlt noch – inklusive des heftig umstrittenen Tunnels.

Hier ist die Trassenführung geplant.
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Seit die grüne Verkehrsministerin Leonore Gewessler angekündigt hat, angesichts der Klimaziele des Bundes und der zunehmenden Versiegelung des Bodens alle Straßenbauvorhaben bis zum Herbst zu evaluieren, gehen die Wogen rund um das S-1-Projekt wieder hoch. Schließlich machte die Grüne deutlich, dass nach der Prüfung auch ein Aus stehen könnte. Es könne sein, dass Entscheidungen "aus heutiger Sicht nicht mehr so vernünftig sind, wie sie es vor 30 Jahren waren", so Gewessler in der ZiB 2.

Fast so lange ist der Lobautunnel nämlich Thema in der Wiener Stadtregierung. Konkretisiert wurde der Vorstoß im Jahr 2003: Da ergab eine strategische Umweltprüfung für den Nordosten Wiens, dass ein Autobahntunnel unter der Lobau die beste Variante wäre – aber noch mit einer alternativen Streckenführung. Ob das Straßenbauprojekt angesichts des voranschreitenden Klimawandels nunmehr tatsächlich der Weisheit letzter Schluss ist, darüber scheiden sich freilich die Geister.

Mächtige Allianz pro Tunnel

Die Positionen der Fürsprecher und der Bekämpfer des Bauprojekts sind jedenfalls seit Jahren bezogen – und die scharfe Grenze wurde durch den Gewessler-Vorstoß wieder so sichtbar wie lange nicht. Auf der einen Seite findet sich – auch wenn die Motive verschieden sind – eine seltene wie mächtige Allianz aus SPÖ, ÖVP, FPÖ, Wirtschaftskammer und ÖAMTC für den Tunnelbau. Wiens roter Bürgermeister Michael Ludwig kündigte etwa juristische Schritte gegen den Bund an, sollte es zu einem Stopp der S 1 kommen. Laut Ulli Sima (SPÖ) werde es in diesem Fall auch "Schadenersatzforderungen" geben, wie die Verkehrsstadträtin dem STANDARD sagte. Hinter vorgehaltener Hand heißt es, dass die SPÖ deshalb auch mehr Geld für Wien beim 1-2-3-Ticket, einem Prestigeprojekt Gewesslers, herausschlagen wolle.

Am Freitag sprach sich nach Wiens ÖVP-Chef und Finanzminister Gernot Blümel auch Kanzler Sebastian Kurz für die Umsetzung der Tunnelpläne aus. Er sehe sich bei der Frage rund um die seit Jahren geplanten Straßenprojekte an der Seite der Bundesländer und der Ostregion. Kurz sei "sehr optimistisch, dass sich der Hausverstand durchsetzen wird".

Gegen den Lobautunnel sind vor allem die Grünen, zahlreiche Umweltschutzorganisationen und – etwas zaghaft – die Neos. Krawall des pinken Juniorpartners in der Wiener Koalition gibt es deswegen aber keinen.

Bei der ganzen Debatte geht es, so viel steht fest, nicht nur um die Röhren für den motorisierten Verkehr unter dem Naturschutzgebiet. Am Projekt der S-1-Nordostumfahrung zwischen Schwechat und Süßenbrunn zeigt sich aber das Spannungsfeld zwischen Verkehr, Klimaschutz und Stadtplanung am eindrücklichsten.

Die SPÖ-Granden in Wien sind auch deshalb erzürnt, weil am S-1-Projekt indirekt auch andere Straßenvorhaben hängen – und in weiterer Folge große Stadtteilentwicklungen gefährdet seien. Sima spricht davon, dass mit einem S-1-Baustopp "geplante Wohnungen für 60.000 Menschen in den nächsten zehn Jahren nicht realisiert werden können". Auch Betriebsansiedlungen könnten ausbleiben.

Start für Stadtstraße im September

Ein Beispiel ist die Seestadt Aspern: Diese soll ab 2025 neben der U-Bahn auch von der sogenannten Stadtstraße angesteuert werden. Das vierspurige Straßenprojekt der Stadt ist von Gewesslers Evaluierung für Bundesvorhaben nicht betroffen. Für die Verbindung zwischen Südosttangente (A 23, Anschlussstelle Hirschstetten) und der Seestadt liegen laut Sima alle Genehmigungen vor: "Die Vergabe ist im Laufen, der Baustart ist im September. Der Point of no Return ist längst überschritten." Auf den Weg gebracht wurde die Stadtstraße übrigens von der grünen Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou. Die Stadt gab 460 Millionen Euro für den Bau frei.

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Nur mit der Stadtstraße ist es laut Sima aber nicht getan. Denn über die sogenannte S-1-Spange Seestadt Aspern soll das Stadtentwicklungsgebiet in Richtung Osten auch an die künftige S-1-Nordostumfahrung beim Knoten Raasdorf angebunden werden. Damit würde sich eine Verbindung zwischen Tangente und S-1-Verlängerung ergeben. Laut Sima hängt die Entwicklung des nördlichen Teils der Seestadt auch an den beiden Straßenprojekten Stadtstraße und S-1-Spange. "Die Zufahrten zur Seestadt von West und Ost müssen laut UVP-Bescheid in Betrieb sein." Demnach bedinge die Stadtstraße die S-1-Spange, die nur mit der gesamten S-1-Nordostumfahrung samt Tunnel sinnvoll wäre.

In der Seestadt Aspern wird gebaut und gebaut. Ohne Lobautunnel befürchtet die SPÖ massive Nachteile für das Stadtentwicklungsgebiet.
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Stau-Hotspot Tangente

Dadurch soll auch der Stau-Hotspot Tangente entlastet werden: Ausgelegt auf höchstens 100.000 Autos pro Tag wurden 2018 laut Angaben des Verkehrsclub Österreich (VCÖ) bei St. Marx durchschnittlich 186.000 Fahrzeuge pro Tag gezählt. Auch ohne große Baustellen wie derzeit sind regelmäßige Staupunkte auf der A 23 vorprogrammiert.

Mit der kompletten S-1-Nordostumfahrung könne laut Sima die Tangente aber für den Transitverkehr gesperrt werden. Auch eine eigene Busspur sei dann möglich. Die Tangente ist aber eine Straße in Zuständigkeit des Bundes, entscheiden müsste das dann die Bundesregierung.

Der Stau-Hotspot Tangente.
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Argumente für den Lobautunnel lieferte eine noch von Ex-Verkehrsstadträtin Vassilakou in Auftrag gegebene und Anfang 2018 präsentierte internationale Expertenstudie. Diese kam zu dem Schluss, dass der Tunnel "unbedingt notwendig" sei. So formulierte es Mitautor Christof Schremmer vom Institut für Raumplanung. Eine andere Trassenführung sei "nicht mehr realisierbar" oder "weniger verkehrswirksam", wie es im Bericht heißt.

Ohne eine sechste S-1-Donauquerung wäre die Siedlungs- und Wirtschaftsentwicklung in Transdanubien – also Floridsdorf, Donaustadt und dem nördlichen Umland Wiens – "erheblich behindert und zeitlich verzögert". Bis 2030 wurde mit rund 110.000 zusätzlichen Einwohnern jenseits der Donau sowie einem Arbeitsplatzbedarf für mehr als 60.000 Personen gerechnet. Dabei herrsche bereits ein "erhebliches Arbeitsplatzdefizit" vor.

Wien-weites Parkpickerl 2022

Neben dem Lobautunnel müssten aber auch der Ausbau des öffentlichen Verkehrs und ein Wien-weites Parkpickerl vorangetrieben werden, hieß es 2018. Letzteres wird im März 2022 Realität. Hier musste sich Ernst Nevrivy beugen, wortgewaltiger SPÖ-Bezirksvorsteher der wachsenden Donaustadt mit bereits jetzt 200.000 Einwohnern: Ein Parkpickerl vor der S-1-Schnellstraße, tönte er vor noch nicht allzu langer Zeit, werde es in seinem Bezirk nicht geben.

Eine zeitgleich präsentierte Grundlagenstudie der Technischen Universität Wien kam ebenfalls zum Ergebnis, dass ein signifikanter Öffi-Ausbau samt flächendeckendem Parkpickerl die Verkehrsbelastung in Wien senken könne. Der Unterschied zur internationalen Studie: Die Nordostumfahrung mit Lobautunnel sei dafür gar nicht zwingend notwendig.

Abwertung Wiens befürchtet

Über die wirtschaftlichen Auswirkungen des Tunnels für Wien gibt es ebenfalls verschiedene Ansichten: Verkehrsplaner Hermann Knoflacher etwa rechnet damit, dass mit der Umfahrung das Umland Wiens nahe der S 1 aufgewertet werde. Shoppingcenter und Gewerbegebiete im Speckgürtel könnten davon profitieren, die Stadt Wien abgewertet werden. Branchenkollege Werner Rosinak hielt hingegen fest, dass ohne Tunnel ein Verkehrskollaps unvermeidlich sei. In Abwägung von Wirtschaftlichkeit, Ökologie, Verkehrsentlastung und Lebensqualität meinte Rosinak, dass das Risiko der Unterlassung größer als das Risiko des Tunnels sei.

Diese Einschätzung wird von den Grünen und zahlreichen Umwelt-NGOs brüsk zurückgewiesen. "Der Bau einer Autobahn durch den Nationalpark Donau-Auen gefährdet nicht nur ein wertvolles Naturschutzgebiet, sondern steht auch für eine rückständige Verkehrspolitik", heißt es etwa von Global 2000. Offen ist, wie die Weltnaturschutzunion IUCN, die das Schutzgebiet 1997 als Nationalpark der Kategorie II eingestuft hat, auf die Untertunnelung reagiert. Eine Anfrage bei IUCN blieb vorerst unbeantwortet. In einem Brief an die Umweltorganisation Alliance for Nature zeigte sich die IUCN aber "besorgt": Es müsse bewiesen werden, dass die Donau-Auen keinen Schaden nehmen.

Leonore Gewessler nahm im September 2019, damals noch nicht als Verkehrsministerin, an einer Lobautunnel-Demo der Grünen teil.
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Der Tunnel und die Klimaziele

Gegner des Projekts verweisen auch darauf, dass die Schnellstraße den Klimaschutzzielen Österreichs und auch Wiens diametral entgegenstehe. Die Regierungen in Bund und Stadt haben sich dazu bekannt, bis zum Jahr 2040 Klimaneutralität zu erreichen – also eine Netto-Null bei klimaschädlichen Emissionen. Der Verkehr zählt aber zu den Hauptverursachern der Treibhausgasemissionen. Und seit 1990 wurde im Verkehrsbereich ein Anstieg um fast drei Viertel registriert. "Klimaschutz ist mehr als lediglich ein paar Sprühnebel aufzustellen", kritisiert Peter Kraus, der grüne Klimasprecher in Wien. Zuletzt wurde in der Hauptstadt auch der Vorstoß der grünen Ex-Stadträtin Birgit Hebein abgedreht, die ein Einfahrtsverbot in die Innenstadt – mit einigen Ausnahmen – durchsetzen wollte. Um die Klimaziele zu erreichen, müssen aber große Würfe folgen. Für die Grünen in Wien wäre das auch ein Aus für fossil betriebene Fahrzeuge bis 2030. Bundes- und Stadtregierung haben diesbezüglich noch keine Pläne rund um diese Thematik geäußert.

Skurrilerweise könnte mit dem Lobautunnel aber ein anderes Klimaziel erreicht werden: Rot-Pink in Wien hat sich auch vorgenommen, die CO2-Emissionen im Verkehrssektor bis 2030 um die Hälfte zu reduzieren. Wird der Transitverkehr auf die S-1-Umfahrung verlagert, bringt das Wien etwas, für Österreich ist das freilich ein Nullsummenspiel. Zudem könnte durch die attraktive hochrangige Straße noch mehr Verkehr angezogen werden, befürchten Kritiker.

Vor einer Woche, am 2. Juli, riefen Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays For Future, Extinction Rebellion (XR), Bündnis 'System Change, not Climate Change!' und Greenpeace zur Demonstration gegen die Lobau-Autobahn auf.
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Genehmigungsverfahren laufen

Ob die S-1-Umfahrung, wenn überhaupt, bis zu diesem Zeitpunkt realisiert werden könnte, ist nach derzeitigem Stand und auch angesichts der Evaluierung des Verkehrsministeriums noch offen. Aktuell wird von der Asfinag nach den jahrelangen Verzögerungen und Vorarbeiten (siehe Chronologie) kein angepeilter Termin für den Baustart mehr genannt. Geplant ist, zunächst die erste Etappe zwischen Süßenbrunn und Groß-Enzersdorf in Angriff zu nehmen. Danach erst würde der Lobautunnel folgen. Noch sind laut Asfinag aber "weitere erforderliche Genehmigungsverfahren im Gange". Wolfgang Rehm von der Umweltorganisation Virus verweist darauf, dass die rechtlichen Prüfungen noch nicht abgeschlossen sind. Zudem werde es weitere Einsprüche und damit Verzögerungen geben.

Der Tunnelbau soll jedenfalls beim Knoten Schwechat, nahe dem Friedhof der Namenlosen beim Alberner Hafen, starten. Ob dieser Ort bezeichnend für das Projekt wird oder nicht, das wird sich erst zeigen. (David Krutzler, 9.7.2021)

Der stillgelegte Friedhof der Namenlosen beim Alberner Hafen. Bekannt wurde das Areal auch durch den Hollywood-Film "Before Sunrise" (1995) mit Ethan Hawke und Julie Delpy.
Foto: Matthias Cremer