Dass wegen der Delta-Variante auch bei uns noch eine Infektionswelle kommen wir, ist für die meisten Fachleute offensichtlich. Unklar ist aber, wie lange es noch dauern und wie hoch die Welle ausfallen wird.

Der Standard

Im Kongresshaus Salzburg konnte man sich am Freitag ohne Anmeldung gegen das Corona-Virus impfen lassen. Der Andrang war bereits eine Stunde vor dem offiziellen Beginn riesengroß.

Foto: APA/Neumayr

Aktuell sieht die Lage gut aus. Österreich liegt bei den Sars-CoV-2-Neuinfektionen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 7,4 pro 100.000 im EU-Vergleich im besten Drittel. Zwar steigen aktuell die Infektionszahlen wieder leicht an, und die ansteckendere Delta-Variante (früher: die "indischen" Variante 1.617.2) dürfte bereits mehr als zwei Drittel der Neuinfektionen ausmachen.

Dennoch hält die Bundesregierung am Lockerungsfahrplan fest. Mit dem 22. Juli wird der Mund-Nasen-Schutz nur noch in den öffentlichen Verkehrsmitteln und den Geschäften des täglichen Bedarfs – etwa Supermärkten – verpflichtend sein. Die Drei-G-Regel werde aber weiter erhalten bleiben, verkündeten Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne). Denn bereits im Sommer werden die Infektionszahlen nach oben gehen, prognostizierte Kurz, und im Herbst "sicherlich massiv ansteigen".

Immerhin: Der Herbst werde heuer anders gemanagt als jener 2020, versprach Mückstein. Doch lässt sich überhaupt seriös abschätzen, wie sich das Infektionsgeschehen in den nächsten Wochen und Monaten entwickeln wird? Können die Impfungen eine vierte Welle verhindern?

Vorsichtige Modellrechner

Anders als die Regierung sind die besten Modellrechner des Landes mit Prognosen zurückhaltend. Weitgehend Einigkeit herrscht nur darüber, dass eine vierte Welle wahrscheinlich ist. Doch wann sie kommen und wie hoch sie ausfallen wird, das lassen auch die neuesten Empfehlungen der Corona Kommission und des Prognosekonsortiums offen. Ebenfalls keine konkrete Antwort gibt es auf die Frage, wie hoch die Infektionszahlen sein können, ohne das Gesundheitssystem zu überfordern.

Warum solche Vorhersagen immer noch schwierig sind, erklärt Komplexitätsforscher Stefan Thurner (Med-Uni Wien) damit, dass für die Modellrechnungen etliche Variablen zu berücksichtigen sind, die selbst wieder mit einer ganzen Reihe von Unsicherheiten behaftet sind. "Je nachdem, welche Werte wir für diese Faktoren annehmen, kommen völlig unterschiedliche Kurven heraus", sagt der Präsident des Complexity Science Hub Vienna.

Komplexe Unwägbarkeiten

Was aber sind diese Faktoren? Beginnen wir aufgrund des eher warmen Wetters mit der Saisonalität: Die Rolle des Wetters, der Temperatur, der UV-Strahlung und der Luftfeuchtigkeit auf das Pandemiegeschehen ist lange unterschätzt worden. Eine der jüngsten Studien zu dem Thema schätzt den saisonalen Einfluss, der natürlich vor allem damit zu tun hat, dass wir uns in der kühleren Jahreszeit mehr in Innenräumen aufhalten, auf bis zu 40 Prozent. Thurner und sein Team gehen eher von 20 bis 30 Prozent aus. Wie sehr und ab wann die Saisonalität das Infektionsgeschehen wieder begünstigen wird, hängt nicht zuletzt auch vom tatsächlichen Wetter der nächsten Zeit ab.

Eine weitere wichtige Variable in den Kalkulationen ist die Übertragbarkeit des Virus. War im Herbst 2020 eine nur geringfügig veränderte Variante des Wildtyps dominant, so wurde diese im Laufe des Frühjahrs 2021 von Alpha (früher: die "britische" Variante B.1.1.7) ersetzt, die als um 30 bis 40 Prozent ansteckender gilt. Doch Alpha wird gerade in Österreich von der Delta-Variante abgelöst, die noch einmal als um rund 50 Prozent ansteckender gilt als Alpha.

Impfquote als Gretchenfrage

Haben wir es auf der einen Seite ab sofort mit einer deutlich infektiöseren Virusvariante zu tun, werden wir auf der anderen Seite dank der Impfungen deutlich besser geschützt sein. Bei diesem Faktor gibt es aber ebenfalls Unwägbarkeiten: "Wir wissen leider nicht, wie hoch der Prozentsatz der Bevölkerung ist, der bis zum Herbst vollständig immunisiert sein wird", sagt Thurner.

Aktuell halten wir in Österreich allerdings bei nur 63 Prozent der impfbaren Bevölkerung, die zumindest einen Stich erhielten, nur 45,5 Prozent haben beide Impfungen intus. Zum Vergleich: Das deutsche Robert-Koch-Institut geht davon aus, dass 85 Prozent doppelt Geimpfte zwischen zwölf und 59 Jahren eine vierte Welle verhindern würden. Das hiesige Prognosekonsortium hält 70 Prozent Geimpfte in der Gesamtbevölkerung für einen wünschenswerten Wert, ab dem das Risiko für eine Überlastung der Krankenhäuser sehr unwahrscheinlich wird.

Schutz der Impfungen vor Delta

Außerdem wissen wir noch nicht genau, wie gut die Impfstoffe vor der Delta-Variante schützen. Neue, vorläufige Daten aus Israel haben die Euphorie zuletzt etwas gebremst: Zwei Dosen des Impfstoffs von Biontech/Pfizer dürften nur zu rund 64 Prozent vor Delta-Infektionen schützen und zu 93 Prozent vor schweren Verläufen.

Biontech hat deshalb dieser Tage angekündigt, einen eigenen modifizierten Impfstoff gegen die Delta-Variante zu entwickeln, die sich anschickt, als erste Variante global zu werden. Die Daten aus Großbritannien diesbezüglich sind zwar etwas besser. Für den Impfstoff von Astra Zeneca sind die britischen Daten aber deutlich schlechter als jene aus Israel für Biontech/Pfizer. In jedem Fall gilt aber, was auch eine neue Studie im Fachblatt "Nature" diese Woche bestätigte: Für einen Schutz vor Delta braucht es beide Impfungen.

Viraler "Indian Summer"

Großbritannien liefert aktuell auch einen realistischen Vorgeschmack auf den viralen "Indian Summer" in Österreich, denn sowohl bei der Delta-Variante wie auch bei den Impfungen sind uns die Briten etliche Wochen voraus: Dort macht die ansteckendere neue Mutante nahezu 100 Prozent aller Fälle aus und sorgt mit mehr als 30.000 Neuinfektionen täglich für eine Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 220 pro 100.000 Einwohnern, Tendenz weiter steigend.

Das klingt nach einem Horrorszenario. Doch aufgrund der hohen britischen Impfquote (86,6 Prozent der Erwachsenen haben mindestens eine Impfung, rund 65 Prozent bereits beide) sind die Zahlen bei den Spitalseinlieferungen und Todesfällen weit weniger dramatisch als im Spätherbst 2020: Während damals bei rund 30.000 Neuinfektionen täglich rund 500 Menschen an oder mit Covid-19 starben, sind es aktuell nur 20 bis 30.

Zu den indirekten Folgen der Impfungen zählt, dass sich das Infektionsgeschehen noch stärker als bisher auf die Jungen verlagern wird – was eine der wenigen sicheren Prognosen für den Herbst ist, wie auch das Fachblatt "Nature" vermutet. In Israel etwa entfielen in den letzten Wochen mehr als 50 Prozent der Neuinfektionen auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unter 20, die seltener von schweren Verläufen betroffen sind als Ältere.

Nur eine "Laborwelle"?

Der deutsche Virologe Christian Drosten hat aus diesen Gründen von einer auch bei uns zu erwartenden "Laborwelle" gesprochen: Er meinte damit, dass wir zwar ziemlich sicher eine vierte Welle von laborbestätigten Infektionsfällen haben werden. Eine solche hohe Sieben-Tage-Inzidenz muss aber nicht automatisch mit einer hohen CoV-Auslastung der Spitäler oder Intensivstationen einhergehen. Das deckt sich mit den beschriebenen Entwicklungen in Großbritannien.

Doch wie diese Entwicklung weitergehen wird, ist ebenfalls offen: Im Vergleich zur Vorwoche stiegen dort nicht nur die (hohen) Infektionszahlen um 35 Prozent, auch die (noch sehr niedrigen) Spitals- und Todeszahlen ziehen mit Wachstumsraten von über 50 Prozent stark an. Wie sehr sich diese vierte britische Welle im Laufe der nächsten Wochen noch auswächst, kann niemand sagen – zumal dort mit dem 19. Juli, dem "Freedom Day", so gut wie alle Einschränkungen aufgehoben werden sollen.

Was bedeutet das alles für Österreich? Unter dem Strich läuft es für den Corona-Herbst einmal mehr auf einen Wettlauf zwischen dem Impfen und der Ausbreitung der neuen Virusvariante hinaus. In den optimistischen Worten von Gesundheitsminister Mückstein: "Wenn wir weiter in der Geschwindigkeit impfen, kommen wir gut durch den Herbst." Nachsatz: Wenn das aber nicht der Fall sei, dann "sieht es anders aus". (Oona Kroisleitner, Klaus Taschwer, 10.7.2021)