Das Versprechen des "Aufstiegs" aus den 1970er-Jahren ist nicht beliebig wiederholbar, sagt der SPÖ-Nationalratsabgeordnete Max Lercher im Gastkommentar. Heute bedeute Freiheit im sozialdemokratischen Sinn den Ausstieg aus dem Hamsterrad.

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Wie können wir alle ein gutes Leben führen?
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Die Frage, was ein gutes und glückliches Leben ausmacht, beschäftigt uns Menschen seit jeher. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der berühmte Philosoph, der übrigens steirische Wurzeln hat, hat dazu einmal festgestellt: Die Perioden des Glücks sind die leeren Blätter der Weltgeschichte. Folgt man Hegel, leben wir heute in schwierigen Zeiten. Corona, Klimawandel, Digitalisierung, Migration, Flucht und neue geopolitische Zuspitzungen – vielleicht in keiner Epoche zuvor haben sich historische Ereignisse so verdichtet wie heute.

Diese vielfach als Krisen wahrgenommenen Phänomene sind zu einem ständigen Begleiter unseres Lebens geworden. Und diese ständig neuen Krisenerfahrungen setzen den meisten von uns zu, sie lösen Druck, Stress und Unruhe aus.

Lebenslanger Wettbewerb

Diese Veränderungen lassen sich auch politisch abbilden. Etwa durch die Zurückdrängung der Gewerkschaften, die ständig geforderte Effizienzsteigerung, die Verlagerungen von Betrieben und die zum Dauerzustand gewordene Arbeitsmigration. Aber auch in unserem Privatleben haben sich diese Veränderungen bemerkbar gemacht, Stichwort: Selbstoptimierung. Diese fängt heute schon bei kleinen Kindern an, die vom Babyalter an auf lebenslangen Wettbewerb getrimmt und vorbereitet werden.

Auch die Sozialdemokratie hat ihren Beitrag zu dieser Entwicklung beigesteuert. Es war seinerzeit natürlich richtig, den Menschen "Aufstieg" zu versprechen. Aber der vor allem in den 1970er-Jahren erlebte Aufstieg ist nicht beliebig oft wiederholbar. Die Anzahl an Spitzenpositionen ist in jeder Gesellschaft begrenzt, und eine stetige Ausweitung des Konsums, was oft mit Aufstieg verbunden wird, stößt in Zeiten des Klimawandels an natürliche Grenzen.

Der Ego-Gesellschaft ...

An dieser Stelle nähern wir uns dem Kern des Problems: Indem unsere Gesellschaft den Menschen vermittelt, dass sie es erst durch Aufstieg zu etwas bringen müssen, bevor sie einen Wert haben, haben wir uns eine Ego- und Ellbogenkultur geschaffen. Wettbewerb, Selbstdarstellung, Dauerdokumentation auf Social Media, die Eventisierung unseres Alltags und die damit ironischerweise verbundene Vereinzelung und Vereinsamung der Menschen sind die Folge eines vom Neoliberalismus in Geiselhaft genommenen Aufstiegsversprechens.

Dagegen etwas zu unternehmen zählt heute zu den wichtigsten Aufgaben der Sozialdemokratie. Wir müssen eine neue Kultur der Normalität fördern und fordern.

Es kann nicht länger darum gehen, uns selbst ans Limit zu treiben. Sondern es muss darum gehen, dass wir alle ein gutes Leben führen können. Im Rahmen unserer Möglichkeiten und dessen, was unser Planet und sein Ökosystem hergeben können. Freiheit im sozialdemokratischen Sinn bedeutet heute: Ausstieg aus dem Hamsterrad. Gemeinsam ist zu hinterfragen, ob es wirklich ein gutes Leben sein kann, wenn wir alle als Einzelkämpfer gegeneinander einen Dauerwettbewerb führen.

"Der Markt, wie er aktuell organisiert ist, treibt uns an die Grenzen der Möglichkeiten unseres Ökosystems."

Dafür müssen wir eine neue Kultur in die Gesellschaft tragen. Eine Kultur, die den Menschen auch ohne Selbstoptimierungswahn einen Wert zuspricht. Das kann nur funktionieren, wenn wir das Verhältnis zwischen Markt und Sozialstaat neu denken. Es ist der Markt, der die Menschen heute an die Grenzen ihrer Möglichkeiten bringt. Manchmal passiert das auch im Guten, ein gewisses Maß an Wettbewerb kann wohltuend sein; sehr oft passiert das heute aber eben im Schlechten, nämlich in der Art, dass Wettbewerbsdenken all unsere Lebensbereiche dominiert. Hinzu kommt: Der Markt, wie er aktuell organisiert ist, treibt uns an die Grenzen der Möglichkeiten unseres Ökosystems. Nahezu alle Fachleute sind sich einig: Unser Planet, auf dem wir zu Hause sein dürfen, trägt unsere entfesselte Ego-Gesellschaft nicht länger mit. Wenn wir hier nicht einschreiten und gegensteuern, fahren wir nicht nur unsere ganz persönlichen Leben, sondern das der Menschen insgesamt gegen die Wand.

... Grenzen setzen

Deshalb braucht es einen starken und aktiven Sozialstaat, der diesem enthemmten Markt Grenzen setzt. Grenzen in der Kolonialisierung unseres Privatlebens durch den Selbstoptimierungswahn und den Dauerstress im Beruf. Grenzen in der Globalisierung von Waren- und Menschenströmen. Denn ein guter Teil unseres aktuellen Drucks entsteht durch die ständige Drohung, Produktion zu verlagern oder "billigere Arbeitskräfte" ins Land zu holen, die uns dann – prekär beschäftigt – das Essen bringen, das wir selbst nicht mehr kochen können, die unsere Eltern und Großeltern pflegen, für die wir keine Zeit mehr haben, und die all die lästigen Jobs machen, die notwendig sind, um den Kreislauf unserer Selbstoptimierung aufrechtzuerhalten.

Sozialdemokratie heißt für mich daher heute: Das soziale Miteinander und unsere menschlichen Beziehungen gegen eine Kultur der Vereinzelung und des Unglücks zu verteidigen.

Gerecht und fair

"A Mensch möcht i bleiben, und net zur Nummer möcht i werden", hat Wolfgang Ambros gesungen. Damit wir das können, brauchen wir eine politische Bewegung, die das Normale bejubelt und nicht die Stars. Die Menschen so akzeptiert, wie sie sind, und nicht fordert, dass sie so werden, wie sie es nie schaffen werden. Die uns dabei unterstützt, in der Welt, so wie sie ist, glücklich zu werden, statt uns ein Leben lang zu quälen mit unerfüllbaren Hoffnungen. Gerecht und fair zu verteilen, was da ist, und den normalen Leuten ein gutes Leben zu ermöglichen. Die Sozialdemokratie, wie ich sie meine, ist die Bewegung der normalen Leute gegen die Zumutungen einer Welt, die keine Normalität mehr akzeptieren kann.

Eine neue Kultur der Normalität ist das größte Glücksversprechen, das es heute gibt. Es ist die Verteidigung des Lebens gegen die Zerstörungswut des Kapitalismus. Das ist alles, was zählt. Der Rest ist Werbung. (Max Lercher, 10.7.2021)