Fragen, die sich die österreichische und deutsche Justiz stellen: Wer wusste vom Anschlag? Wer hätte ihn stoppen können?

Foto: Christian Fischer

Am 2. November 2020 sind zwei junge Männer in Deutschland damit beschäftigt, fieberhaft ihre gesamte Kommunikation mit einem gewissen K. F. am Handy und auf Social-Media-Profilen zu löschen. Es ist jener Tag, an dem K. F. mit einem Sturmgewehr und einer Pistole in der Wiener Innenstadt vier Menschen töten und über 20 teils schwer verletzen wird. Wird. Denn als die Männer in Deutschland bereits damit beginnen, ihre Spuren zu verwischen, ist der brutale Anschlag noch nicht vollzogen. Die Männer dürften also schon vor der Tat gewusst haben, dass an selben Tag etwas passieren wird. Danach wollen sie lieber nicht mehr in Verbindung mit K. F., der in der Nacht des Terroranschlags von Spezialeinheiten der Polizei erschossen wird, gebracht werden.

Erneute Hausdurchsuchungen

Diese Erkenntnis über den genauen Zeitpunkt ihrer Löschungen wirft nun den Verdacht auf, dass sie vom geplanten Anschlag gewusst haben. Das hat über ein halbes Jahr später Folgen. Am 7. Juli 2021 gegen sechs morgens kommt es auf Veranlassung der Generalbundesanwaltschaft zu zwei Hausdurchsuchungen in Kassel und Osnabrück – bei ebendiesen beiden Männern. Die Staatsanwaltschaft in Wien und die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe geben sich zu den laufenden Ermittlungen zugeknöpft.

Fest steht: Die erneuten Hausdurchsuchungen bei den zwei Männern, einem Deutschen und einem Kosovaren, wurden nicht von den österreichischen Behörden angestoßen. Die Wiener Staatsanwaltschaft bestätigt dem STANDARD aber, dass aktuell noch sieben Personen in Verbindung mit dem Anschlag in Untersuchungshaft sitzen. Gegen insgesamt 33 wird ermittelt. Mit den deutschen Behörden gebe es "laufend polizeilichen und justiziellen Austausch", heißt es knapp. Von den Hausdurchsuchungen am Mittwoch sei Wien vorab informiert gewesen.

Die beiden Männer, in deren Wohnungen die besagten Razzien stattfanden, befinden sich auf freiem Fuß. Es bestehe keine Verdunkelungs- oder Fluchtgefahr, so ein Sprecher der Generalbundesanwaltschaft. Sichergestellte Datenträger werden nun analysiert.

Unbekannte waren die beiden für die Behörden aber keinesfalls. Sie waren schon in der Vergangenheit aufgefallen. Bereits vor einem Jahr beobachtete in Deutschland das Bundeskriminalamt ein mögliches terroristischen Netzwerk, dessen Mitglieder in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Teilen des Westbalkan vermutet wurden.

Zu diesem Netzwerk, das "Löwen des Balkans" genannt wurde, soll auch der 20-jährige Attentäter von Wien gehört haben. Vor einem Jahr, am 16. Juli 2020, wurden er und die beiden Männer, deren Wohnungen nun durchsucht wurden, in Wien von der Polizei observiert – auf Vorschlag der deutschen Kollegen, die von einer Wien-Reise der beiden Männer Wind bekommen hatten. Die deutschen Ermittler hatten erwartet, dass ein weiterer einschlägig bekannter Deutscher, der damals in Wien lebte, die beiden Wien-"Touristen" an diesem Sommerabend vom Flughafen abholen würde. Doch der tauchte nicht auf. Stattdessen kam der spätere Attentäter K. F. in Begleitung zweier weiterer Männer.

Beten und treten

Im Observationsbericht vom Juli 2020 werden die beiden deutschen "Zielpersonen" dabei beobachtet, wie sie gleich nach ihrer Ankunft am Flughafen, noch bevor sie die Freunde treffen, ihre Jacken auf dem Boden ausbreiten und sich zum Gebet niederknien. Unmittelbar darauf üben sie "Selbstverteidigungsgriffe und Fußtritte", so der Bericht.

Danach begrüßt man die anderen drei mit Bruderküssen. Es geht unter anderem in den Vergnügungspark des Prater, wo man mit der "Black Mamba" fährt, später übernachten die Gäste in der Wohnung des Attentäters. Die Observation wird nach dem Besuch von österreichischer Seite abgebrochen.

Dabei war K. F. bekanntlich für die österreichischen Behörden längst kein Unbekannter mehr. Schon im April 2019 stand er vor Gericht, musste sich für seine Mitgliedschaft bei der Terrororganisation "Islamischer Staat" verantworten und wurde zu 22 Monaten unbedingt verurteilt.

Später, als also die Observation längst abgebrochen war, meldete sich bekanntlich ein anderer Nachbarstaat vergeblich bei den Österreichern: die Slowakei, wo K. F. versucht hatte, Munition zu kaufen. Der Hinweis der slowakischen Behörden wurde viel zu spät weitergeleitet.

"Gemütliches" Österreich?

Mit Blick auf diese Ereignisse könnte man den Eindruck gewinnen, Österreich werde nur dann tätig, wenn es von ausländischen Staatsschützern angestoßen werde. Finden es Jihadisten gar besonders "gemütlich" in Österreich?

Das würde Felix Lippe, der am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie unter anderem zu Extremismusprävention forscht, so nicht sagen: "Dass es in Österreich so viele ‚foreign fighters‘ (Syrien-Kämpfer, Anm.) gibt, hat historische Gründe", sagt der Experte, "es konnte sich in Österreich eine kleine Szene nach den Bosnien-Kriegen entwickeln, die bis heute besteht". K. F. selbst wurde in Österreich geboren, seine Eltern wanderten schon in den 1980ern aus Nordmazedonien ein.

Was laut Lippe wichtig wäre, wäre, "nicht nur jene Männer zu beobachten, die als IS-Kämpfer aus dem Syrienkrieg zurückgekehrt sind, sondern vor allem auch jene, die es probiert haben, aber nicht nach Syrien gekommen sind".

Aus seiner Erfahrung als Beobachter von Terrorismus-Gerichtsprozessen sind die Heimkehrer "oft glaubhaft desillusioniert und sind sogar von dort geflohen". Diese traumatische Erfahrung fehle jenen, die in Österreich, Deutschland oder auch der Schweiz bleiben.

Vor allem seit der "Islamische Staat" 2016 die Order an seine Anhänger in Europa ausgab, "lieber aktiv zu werden in den Ländern, wo sie leben", sei die Gefahr gestiegen. Dass die nun beobachteten Netzwerke gänzlich neu sind, glaubt Lippe nicht. Auch wenn die Mitglieder jung seien, seien es seit Jahren dieselben Orte, an denen schon früher von radikalen Predigern Kämpfer rekrutiert worden seien. Auch die Netzwerke des Attentäters von Wien deckten sich mit "berüchtigten Drehscheiben", wie es Lippe und sein Kollege der Universität Luzern, der Soziologe Johannes Saal, in einem ausführlichen Text über K. F. für das Combating Terrorism Center at Westpoint (CCT) beschreiben. Die beiden Forscher kommen darin zu der Conclusio, dass allein in Österreich rund 100 Jihadisten mit ähnlichem Mindset wie jenem von K. F. leben und sich die Behörden doppelt so stark auf die Aufdeckung von deren Netzwerken, die sich weit über Europa ziehen, konzentrieren sollten.

Schweizer Freunde

So etwa im Schweizer Winterthur, wo ebenfalls Bekannte des Attentäters von Wien zu finden sind. Die beiden Männer waren auch zwischen 16. und 20. Juli 2020 mit von der Partie, kamen aber nicht mit dem Flugzeug, sondern mit dem Auto aus der Schweiz angereist. Die beiden damals 18 und 24 Jahre alten Männer wurden wenige Tage nach dem Anschlag in Wien in Winterthur festgenommen.

Doch nicht nur das Netzwerk des Attentäters jener Nacht vom 2. November führt unter anderem nach Deutschland.

In München trauern seit der Wiener Terrornacht zwei Frauen um ihre Tochter bzw. Schwester: Der 24-jährigen Deutschen, die in Wien Kunst studierte und neben dem Studium kellnerte, wurde ihr Job am 2. November zum Verhängnis, als K. F. sie im Gastgarten des Lokals erschoss. Unter anderem wegen der im Juli 2020 abgebrochenen Observation hat die Mutter des Opfers einen Amtshaftungsanspruch gestellt und die Republik Österreich geklagt.

Die Klage wurde schon im März das erste Mal zurückgewiesen – unter anderem mit der Begründung, dass K. F. an Deradikalisierungsprogrammen teilgenommen hatte. Der Wiener Anwalt Norbert Wess, der die Münchner Hinterbliebenen pro bono vertritt, will nicht aufgeben. Schon gar nicht im Lichte der neuerlichen Hausdurchsuchungen. Wess ist sich sicher: Der Tod der 24-Jährigen hätte verhindert werden können, hätte man den Mann engmaschiger kontrolliert. Zudem könne man nicht vom Tisch wischen, dass in der Causa "immer noch ein Strafverfahren gegen zwei Beamte wegen Amtsmissbrauchs anhängig ist", erinnert der Rechtsanwalt. (Colette M. Schmidt, 10.7.2021)