Als die Polizei am Samstag, 26. Juni, um kurz nach sieben Uhr vor dem Gemeindebau im Wiener Bezirk Donaustadt hält, liegt Leonie regungslos auf dem Grünstreifen zwischen Straße und Gehsteig. Eine Frau, die auf dem Weg zur Arbeit vorbeikam, lehnt über ihr und macht eine Herzdruckmassage. Daneben telefoniert ein junger Mann mit der Rettung. Er ist Leonies Freund, wie es zumindest in einigen Zeugenaussagen heißen wird. Gut einen Monat kannten die beiden einander. In den Medien wird er als "verdächtiger 16-jähriger Afghane" bekannt werden. Als die Rettung wenige Minuten später eintrifft, ist Leonie tot – vermutlich war sie das schon länger.

Vor zwei Wochen wurde Leonie auf einem Grünstreifen in der Wiener Donaustadt tot aufgefunden. Sie lehnte an einem Baum.
Foto: APA/ Herbert Neubauer

Der 16-Jährige behauptet, Leonie nicht zu kennen, er wird befragt, dann zieht er weiter. Um 9.30 Uhr sucht ein Polizeihund das Areal ab. Geruchsträger sind Leonies Turnschuhe. Er läuft um den Gemeindebau in den Hof, wo Polizisten einen eingerollten Teppich und einen Mund-Nasen-Schutz finden. Gleich daneben wohnt ebenerdig ein 18-jähriger Afghane, der "Haji" genannt wird. Beamte klopfen an, sie sehen, dass Licht brennt, niemand macht auf. Sie wollen später wiederkommen. Es ist die Tatwohnung.

Kurz darauf gibt Leonies Mutter im Bezirk Tulln, wo die Familie wohnt, eine Vermisstenanzeige auf. Von ihrer Tochter hat sie zuletzt Freitagnacht gehört. Leonie besaß zu der Zeit kein Handy. Ihre Eltern kontaktierte sie über das Mobiltelefon ihrer besten Freundin: Sie komme heute nicht mehr. Es wird ihr letzter Satz an ihre Familie sein.

Mehrfach nicht nach Hause gekommen

Der Fall Leonie, die Vergewaltigung und der Tod des 13-jährigen Mädchens, hat Österreich ins Mark getroffen. Die Tat ist schockierend; sie wurde auch zum Politikum. Tatverdächtig sind vier Afghanen, von denen drei bereits amtsbekannt sind – und die wohl schon davor hätten abgeschoben werden können. "Es ist mir relativ egal, welche Behörde hier versagt hat. Fakt ist, dass versagt wurde", sagt Florian Höllwarth, Anwalt von Leonies Eltern.

Gibt es also eine staatliche Mitschuld? Wie konnte der Fall passieren? Warum war Leonie in dieser Nacht unterwegs – und mit wem?

Der viele Dutzend Seiten umfassende polizeiliche Akt skizziert einerseits die abscheuliche Tat, er lässt aber auch Schlüsse auf das Umfeld von Leonie wie auch das der Tatverdächtigen zu: Sie bewegen sich in einer Jugendszene zwischen Donaukanal und Prater, spazieren dort oder lungern herum, trinken, manche nehmen Drogen oder dealen. Eine große Rolle spielt die Foto-Social-Media-Plattform Instagram, über die sie auch chatten und telefonieren. Leonie ist in den Monaten vor ihrem Tod mehrfach nicht nach Hause gekommen. Vor einem Jahr hatte ihre Mutter die Jugendwohlfahrt eingeschaltet, weil sie mit ihrer Tochter nicht mehr zurechtkam. Drogen habe Leonie vor der Tatnacht aber keine genommen, sagt die Familie.

Zehn Pillen Ecstasy

Nicht ganz 16 Stunden nach Leonies Tod liegt das "vorläufige Obduktionsergebnis" vor: Ein Sexualdelikt wird darin ausgeschlossen. Ein Fehler, wie sich herausstellen wird. Stutzig hatte die Ermittler schon die Art und Weise gemacht, wie die Leiche angezogen war. Der Slip war "offensichtlich verdreht" und "nicht funktionskonform angezogen", halten Polizisten fest.

Haji, der 18-jährige Wohnungsinhaber, und der 16-Jährige, der behauptet, Leonies Freund gewesen zu sein, werden als Erste festgenommen. Ein dritter Afghane, 23 Jahre alt, wird bei der U-Bahn-Station Michelbeuern erwischt. Ein weiterer Verdächtiger kann flüchten, womöglich nach Italien – davor sprechen sie offenbar mit mehreren Bekannten über die Tat. Die Zeugen melden sich bei der Polizei und führen sie auf die Spur. Die Schilderungen zum Tathergang, wer was getan hat, ob der Vierte überhaupt dabei war, all das wird je nach Aussage variieren. Laut Anwalt Höllwarth soll Leonie an einer Überdosis von zehn Pillen Ecstasy verstorben sein. "Damit wurde sie gefügig gemacht und dann vergewaltigt." Er vertritt auch die Meinung, "dass Männer aus dem Nahen Osten von Geburt an ein anderes Verhältnis zu Sex, Frauen und Kindern haben".

Zuvor in Tulln unterwegs

Am Nachmittag und Abend vor der Tat ist Leonie mit ihrer besten Freundin in Tulln unterwegs. Sie gehen einkaufen, fahren kurz nach Hause, um Kaugummis zu holen, essen Eis. Einer der mutmaßlichen Täter treibt sich zu dieser Zeit auf der Donauinsel herum und versucht, ein Mädchen zu sich nach Hause zu locken, wie aus einer Zeugenaussage hervorgeht. Die junge Frau will aber nicht und geht.

Den Abend verbringen Leonie und ihre beste Freundin mit zwei jungen Männern, die sie flüchtig kennen, in Tulln und Umgebung. Mit ihnen fahren die Mädchen ziellos umher. Erst kurz vor halb zwölf trennen sich ihre Wege. Leonies Freundin geht nach Hause – und denkt, Leonie mache das auch, das gibt sie zumindest zu Protokoll.

Doch Leonie schrieb kurz davor offenbar nicht nur ihrer Mutter, sondern über Instagram auch einem 26-jährigen Bekannten, den sie drei Wochen zuvor über einen Freund kennenlernte. Ihn bittet Leonie, sie nach Wien zu bringen. Gegen 23.30 Uhr holt er sie vom Bahnhof Tulln ab, sie fahren nach Wien, parken beim Schottenring und gehen runter zum Donaukanal, der Partymeile. Er wird aussagen, dass Leonie dort viele Leute kennt, mehrfach gegrüßt wird. Sie gesellen sich zu einer Gruppe, plaudern, trinken etwas.

Gegen halb eins, erinnert sich der 26-jährige Verkäufer, kommen drei Afghanen vorbei, die Leonie kennt. Es sind Haji, ihr 16-jähriger angeblicher Freund und jener Mann, der inzwischen flüchtig ist.

Der Weg in die Wohnung

Leonies Freund habe am Donaukanal eine kleine Szene gemacht, weil sie mit anderen Burschen unterwegs ist. Leonie entschließt sich, mit ihm mitzugehen. Den anderen sagt sie, "dringend" etwas erledigen zu müssen. Sie sei in zwanzig Minuten zurück, versichert sie – wiederkommen wird sie nicht.

Ein 18-jähriger Simmeringer trifft Leonie zwischen ein und zwei Uhr am Donaukanal. Sie kennen einander durch eine etwas vertrackte Geschichte: Leonies Mutter hat ihn zwei Wochen zuvor im Prater getroffen, als sie mit ihrer älteren Tochter auf der Suche nach Leonie war. Dabei kommt ihnen der junge Mann unter, der ihnen offenbar vertrauenswürdig erscheint. Sie bitten ihn, etwas auf Leonie zu schauen. Später lernt auch sie ihn kennen. Der Lehrling schickt Leonies Mutter noch kurz vor der Tat eine Audionachricht, dass er sie gesehen hat.

Der 26-jährige Verkäufer, mit dem Leonie nach Wien kam, wartet derweil auf sie – etwa eineinhalb Stunden. Um circa zwei Uhr früh kontaktiert er sie telefonisch über Instagram: "Dabei wirkte sie von der Stimme her überhaupt nicht beeinträchtigt. Also sie lallte nicht und redete klar." Sie komme nicht mehr, wolle stattdessen mit ihren Freunden abhängen, habe sie erklärt. Zu der Zeit war Leonie wohl in Kagran – in der Nähe der Tatwohnung. Aus der U-Bahn-Station dort gibt es Aufnahmen der Überwachungskamera von ihr und den Männern.

Einer der mutmaßlichen Täter gibt zu Protokoll, dass er, seine beiden Freunde und Leonie um kurz nach zwei Uhr in der Wohnung im Gemeindebau der Donaustadt ankommen. Ab dann wird es etwas unübersichtlich. Sie nehmen Ecstasy, die Männer mischen Leonie Drogen in den Orangensaft. Dann soll es zur Vergewaltigung gekommen sein – und das Mädchen zu atmen aufgehört haben. Warum, wird möglicherweise erst das endgültige Obduktionsergebnis klären, das in einigen Wochen erwartet wird.

Auch wer in welcher Form an ihrem Tod beteiligt ist, kann man noch nicht klar sagen. Ein vierter Mann, ebenfalls Afghane, der nun in U-Haft sitzt, soll als Drogenbote vorbeigekommen sein – womöglich hat er sich einige Zeit in der Wohnung aufgehalten.

Fehlende Priorisierung

Die große Frage ist bis heute aber auch: Hätte die Tat verhindert werden können? "Das kann man nicht mit Sicherheit wissen. Schuld sind immer einzig und allein die Täter", sagt die türkise Verfassungsministerin Karoline Edtstadler im Gespräch mit dem STANDARD. "Aber wenn man sich die Zeitleisten anschaut, ist es wahrscheinlich, dass möglicherweise drei Verdächtige nicht mehr im Land gewesen wären, wenn die Entscheidung zur Abschiebung zeitgerecht vom Bundesverwaltungsgericht gefällt worden wäre." Aus Edtstadlers Sicht sei es deshalb wichtig, dass Behörden ihre Fälle richtig priorisieren – und mögliche Abschiebungen von Straftätern vorrangig behandelt werden. Aber passiert das?

Involviert sind zwei Ministerien: das grüne Justizministerium, bei dem die Strafgerichte und das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ressortieren, sowie das türkise Innenministerium, dessen Bundesamt für Fremdendenwesen und Asyl (BFA) über Aufenthaltstitel entscheidet. Auch das Strafregister befindet sich im Innenressort.

In der Theorie könnte die Kommunikation zwischen den Stellen gut funktionieren: Fällt ein Strafgericht eine rechtskräftige Verurteilung, können Richterinnen und Richter per Mausklick das BFA darüber verständigen. Die Behörde hat dann die Informationen über die Vorstrafe des Drittstaatsangehörigen, über dessen Abschiebung sie befinden soll – und kann sie in die Entscheidung einfließen lassen.

Am Donnerstag hielten mehrere Menschen für Leonie eine Trauerkundgebung ab.
Foto: Imagio/ Isabelle Ouvrard

In der Realität ist es mit der Vernetzung aber nicht immer so weit her – was auch daran liegen könnte, dass es im BFA eben kein einheitliches Vorgehen hinsichtlich der Priorisierung von Fällen gibt. Manche Teams gehen nach dem zeitlichen Einlangen der Akten vor, andere nach Problemfällen. Auch beim BVwG wird eine Priorisierung derzeit nicht pauschal durchgeführt.

Der Kern des Problems liege in der Migrationsbewegung aus den Jahren 2015 und 2016, betonen alle Stellen. Zunächst stauten sich die Akten beim BFA, seit 2018 arbeitet das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerden ab. Dass es im Durchschnitt drei Wochen, in der Realität aber auch deutlich länger dauert, bis eine gerichtliche Verurteilung im Strafregister aufscheint, macht alles noch komplizierter.

Höllwarth, der die Eltern rechtlich vertritt, will jedenfalls mit einer Amtshaftungsklage gegen die Republik Österreich vorgehen. Zu wenig Personal in der Justiz oder anderen Stellen, wie gerne argumentiert wird, sei da keine Ausrede – auch dann mache sich der Staat schuldig, ist Höllwarth überzeugt.

Leonies Tod wird am Samstag, den 26. Juni, um sieben Uhr und zehn Minuten festgestellt. Sie trägt kein Handy, keine Geldbörse und auch sonst nichts bei sich, mit dem ihre Identität festgestellt werden kann. Ihre letzten Nachrichten hat sie wohl vom Handy ihres angeblichen Freundes und möglichen Peinigers geschrieben. Kurz nach der Tat soll er die Nachrichten von Leonies Instagram-Account gelöscht haben. (Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, Michael Möseneder, 9.7.2021)