Den, der ein Fußballmatch geseh’n, reizt sonst nichts mehr in Europa, man kann auch in die Oper geh’n! Doch was ist schon eine Oper?

Hermann Leopoldi

Von Sepp Herberger, einem Schatzkisterl ballesterisch-philosophischer Weisheiten, stammt der schöne Satz: "Der Fußball ist das Theater des kleinen Mannes." Eine tiefe Einsicht ist das, die, beherzigt, einem das Sehen erleichtern kann beim Schauen. Denn so manches, was da verstören mag, liegt am ästhetischen Wesen des Fußballspiels; dass es im Grunde ein Schauspiel ist. Dem Theater verwandter als dem reinen Agon, dem sportlichen Kräftemessen.

Der Fußball ist, wenn schon nicht an die Stelle, so doch an die Seite des uralten Volkstheaters getreten. Von dem hat er auch die immer lebenspralle, häufig obrigkeitswidrige, bis heute zeitgeistschindende, immer auch zotige Widerspenstigkeit. Wer den Fußball mit durch allerlei Reinheitsgebote aufblasierter Aufmerksamkeit verfolgt – ja diesbezüglich sogar Lippenleser beschäftigt, damit ja nichts, was ansonsten durchrutschen könnte, durchgehen kann –, wird das Spiel nicht verfolgen können. Sondern höchstens verfolgen. (Ja, Hans Wurst lebt gerne auch am Doppelsinn.)

Eigene Welt

Das ballesterische Schauspiel schafft sich, wie jedes Schauspiel, eine eigene Welt. Es funktioniert, wenn es denn funktioniert, nur innerhalb seiner selbst. Die Außenwelt kommt darin, wenn überhaupt, höchstens als ein Als-ob vor. Als das, was der Rasen – die Bretter des Fußballspiels – bedeutet.

Nur auf dieser Bühne und unter dieser Prämisse der Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung entsteht, geschieht, steigert sich die dramatische Spannung. Nur, wer sich bewusst – im Wissen um dieses Als-ob – einlässt auf den theatralischen Kern, vermag mitzufiebern. Den anderen bleibt es verschlossen. 22 verschwitzte Männer laufen und raufen um einen Ball, sagen sie achselzuckend. (Will ein Theaterkritiker ein Theaterstück verreißen – so lautet eine Grundregel siebeng’scheiter Kritikasterei –, schreibt er eine Nacherzählung der Handlung.)

Foto: imago images/Kolvenbach

Der Schein, der da trügt im Fußballspiel, mag nicht immer schön sein. Aber er ist ohne Zweifel immer ein Schein. Besonders deutlich wird das, wenn unversehens die Bedeutung hereinbricht ins bloß Bedeutende. 1985 sind im Brüsseler Heysel-Stadion, ausgelöst durch marodierende Liverpool-Hooligans, noch vor dem Meistercupfinale 39 Menschen zu Tode gekommen. Das Spiel gegen Juventus wurde, um die betrunkenen Marodeure nicht zu weiteren Schandtaten zu reizen, gleichwohl angepfiffen. Der ORF übertrug als eine der wenigen Fernsehstationen, blendete aber das Insert ein: "Das ist kein Fußballspiel." Und hatte damit, über den katastrophalen Anlass hinaus, recht.

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Die fast explosionsartige Theatralisierung der ursprünglichen sportlichen, kräftemessenden Bubenkonkurrenzen geschah im frühen 20. Jahrhundert. Etwas früher in England, dann zeitgleich in Südamerika und Europa, wo nach dem Ersten Weltkrieg der Grundstein zum ballesterischen Welttheater gelegt wurde. Interessanterweise geschah dies parallel zur Entwicklung des Films, der dem Theater am anderen Ende – dem Drama – das Wasser abgrub. Die Wiener Kulturhistoriker Roman Horak und Wolfgang Maderthaner haben in ihrem Standardwerk Mehr als ein Spiel auf diese frappante Gleichzeitigkeit hingewiesen.

Neben dem eher männlichen Fußball-Theater entfaltete sich das eher weibliche Lichtspiel-Theater. Dieses brachte das Stück, das Drama, ins Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Jener hielt mit seiner puren Theatralik dagegen, der Transitorik des unmittelbaren Geschehens, der Unwiederholbarkeit dessen, was da gerade vor sich geht.

Dramaturgie und Handlung

Daraus erst entstand die authentische Dramaturgie des Fußballspiels. Die Spannung wächst aus der Konkurrenz, den sportlichen Wurzeln. Innerhalb einfachster Regel, unter striktem Handverbot und dem Gebot, den runden Ball mit dem dafür ungeeignetsten Körperteil zu treten, entwickeln die zwei Mannschaften aber jedes Mal eine neue Handlung.

"Fußball", sagte Sepp Herberger, "ist deshalb spannend, weil niemand weiß, wie das Spiel ausgeht." Jean-Paul Sartre, ein Paris-SG-Aficionado, schürzte den dramatischen Knoten: "Beim Fußball verkompliziert sich alles durch die Anwesenheit der gegnerischen Mannschaft."

Sepp Herberger führte Deutschland zum WM-Titel 1954.
Foto: imago images/WEREK

Die Erzählung wird im und mit dem jeweiligen Spiel geschrieben. Mit den ihm eigenen Mitteln, zu denen die kathartischen Emotionsturbulenzen zählen in all ihren Schön- und Schiachheiten. Den Fußball über den Leisten der neuen Empfindlichkeiten zu schlagen ist der Versuch, ihm das Eigentliche zu nehmen.

Zwickmühle der Kulturindustrie

"Im Fußballspiel", schreibt der Sportphilosoph Gunter Gebauer in seiner wunderbaren Poetik des Fußballs, "kommt ein Misstrauen gegen die Kultur zum Ausdruck." Gewiss, ein bubenhaft Pubertäres. Aber eines, das nicht allein die englischen Eliteschüler, die den Fußball erfunden haben, bewegte. "In ihrem freudvollen Revoltieren gegen die gelehrte Kultur ihrer Lehrer nahmen sie die Sprachskepsis des Fin de Siècle und die Rückkehr der Malerei zu vorkünstlerischen Formen vorweg."

Insofern gehört der Fußball auch zur ästhetischen Moderne. Jedenfalls zu ihrem Rand. Und wie alle anderen Formen des ästhetischen Ausdrucks wird nun – da wir auch die Postmoderne schon hinter uns haben – auch der Fußball in die Zwickmühle der Kulturindustrie genommen. Um einen hohen, das Eigentliche anrührenden Preis. Er darf nicht mehr seine eigenen Weltzusammenhänge erzeugen. Er soll, so verlangen es seine Betreiber und so verwalten ihn seine Kommissare, Teil der kalkulierbaren Welt werden, die er doch bloß bedeuten will.

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Seit langem stöhnt der Fußball unter der Last der ihm aufgebürdeten Geldsäcke. Die Fifa und die Uefa – der Welt- und Europaverband – haben sich längst der Knute des Dagobert Duck gebeugt. Die prallgefüllten Geldspeicher in Zürich (Fifa) und Nyon (Uefa) haben eine Dynamik entwickelt, die dem Theatralischen des Fußballs den Garaus macht.

Das Geld und das damit verbündete Fernsehen haben das Spiel zum Ernst des Lebens umgemodelt. Die VAR-Idiotie – die davon ausgeht, dass etwas erst dann wirklich ist, wenn es in Zeitlupe gezeigt wird – ist dafür nur das letzte Beispiel. Sie hat dem Spiel endgültig die Transitorik genommen. Ein- und fortgeführt wird es mit dem Scheinargument, dass es doch um was gehe. (Verzeihung: um was? Um viel Geld?)

VAR-Kontrolle.
Foto: Paul ELLIS / POOL / AFP

Uefa: Von der Herrin zur Dienerin des Spiels

Die Dagobert Ducks – von Heineken-Bier bis Qatar Airlines – wollen glattgestrichene, anstandslose Spiele; ein jungfräuliches Blatt Papier, auf das sie ihre Botschaften schreiben können, die televisionär durch den Kontinent geschickt werden. Um das zu garantieren, ist die Uefa da. Von der Herrin des Spiels hat sie sich längst zur Dienerin degradiert. Es ist der ewige Fluch des großen Geldes: dass man den Hals nicht vollkriegt und von Mal zu Mal bereiter wird, sogar die Seele zu verkaufen.

Und so fängt man an, sich zu verheddern in sich selber. Hinter den knallharten Dagoberts lauern die Hehren mit den guten Absichten. Und hinter den Absichten die jeweils aktuellen Konflikte der Welt, denen das Spiel doch – im Wortsinn – den Rücken kehrt. Wer aber, im erhebenden Gefühl, das richtige Zeichen zu setzen, dem Kniefall vor dem Anpfiff das Wort redet, wird nicht umhinkönnen, auch den Regenbogen einziehen zu lassen. In einem nächsten Schritt dann den Klimaschutz? Und so weiter.

Irgendwann werden Uefa und Fifa Kommissionen einsetzen müssen, die über eine stadiontaugliche Weltsicht zu entscheiden haben. Was ist ein gutes Zeichen? Was ein Pfuigack? Das differiert mittlerweile ja schmerzlich. Was in München bejubelt wird, gilt in Budapest als verpönt. Von Baku will man es gar nicht genau wissen. Zunehmend geht es um diese theaterferne Frage, was man, im Wortsinn, für bare Münze nehmen soll.

Bild nicht mehr verfügbar.

Uefa-Präsident Aleksander Ceferin.
Foto: REUTERS/Catherine Ivill

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Es war eine sehr gute, spannende, fußballerisch hochstehende, überraschende Europameisterschaft. Die Schauspielerleistung war durchwegs exzellent. Aus den bemerkenswerten Ensembles ragte eine ganze Reihe von "Man-of" noch heraus. Auch die Österreicher dürfen einander, ein bisserl, auf die Schulter klopfen.

In den Kulissen freilich knirscht es. Die Verbände sind – unübersehbar – dabei, über die eigenen Beine zu stolpern. Das Dagobert Duck’sche Immermehr – das "citius, altius, fortius" der Geldsäcke – stößt an jene Grenzen, die eh auf der Hand gelegen sind. Nur nicht auf der, die dauernd aufgehalten wird.

Die Weltbühne wartet

Im nächsten Jahr wird der Fußball auf der Weltbühne gespielt. Aber erst im Winter. Denn gespielt wird im ölscheich- und also stinkreichen Katar. Mit Kniefall? Mit Regenbogen? Mit Heineken-Bier? Der Krug, so sagt man, geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.

Ferdinand Raimunds Fortunatus Wurzel stammt aus einer Zeit, in der vom Fußball noch lange nicht die Rede gewesen. Er besang seinen Weg vom Bauer zum Millionär und wieder retour: "Von Stolz ganz aufgebläht, oh Freunderl, das ist öd. Wie lang steht’s denn noch an, bist auch ein Aschenmann."

An Aschen! An Aschen! (Wolfgang Weisgram, 12.7.2021)