ORF-Sportchef Hans Peter Trost.

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STANDARD: Die EM ist Geschichte. Das Zuseherinteresse war mit 818.000 Zusehern pro Spiel im Schnitt größer als vor vier Jahren. Wie fällt Ihre Bilanz aus?

Trost: Sehr positiv. Man hat gesehen, dass Sport, vor allem wenn es große Events sind wie etwa Fußball, die Massen begeistert. Egal aus welcher sozialen Schicht und egal welcher Altersgruppe.

STANDARD: Live-Sport ist immer noch das Zugpferd und Argument für lineares Fernsehen?

Trost: Ich bin der Überzeugung, dass die Live-Komponente das lineare Fernsehen in den nächsten Jahren dominieren muss. Ob Information, Unterhaltung oder Live-Sport. Deswegen ist der Kampf um diese Rechte natürlich extrem. Live-Sport ist auch Teil einer Unterhaltungsindustrie und bestes Theater im Sinne des Aristoteles.

STANDARD: Der Kampf um die Sportrechte ist heftig. Servus TV mischt etwa den Markt auf und hat sich die kommenden zwei Fußball-Europameisterschaften gesichert.

Trost: Da muss ich Sie unterbrechen. Die nächste EM ist bei uns. Das ist im nächsten Jahr die Damen-Fußball-EM in London.

STANDARD: Aber die nächste Herren-EM 2024 in Deutschland ist bei Servus TV. Gibt es Bestrebungen, eine Sublizenz zu erwerben und Spiele im ORF zu übertragen?

Trost: Das ist im Sport so. Einmal gewinnst du, dann verlierst du. Aber natürlich: Alles ist interessant, aber drei Jahre vor der EM ist es zu früh, darüber zu spekulieren. In Deutschland hat man gesehen, was passiert ist. Die Rechte lagen bei Magenta, wurden dann aber ziemlich aufgeteilt. Da sind jetzt nicht wir am Zug.

STANDARD: Ein Novum im ORF war, dass mit Anna-Theresa Lallitsch erstmals eine Frau ein Fußballspiel bei einer Herren-EM kommentiert hat. Wie waren die Reaktionen des Publikums?

Trost: Wir haben intern gewusst, dass sie es kann und sehr gut machen wird. Ich habe mich gefreut, dass die Reaktionen im Vergleich zu anderen Ländern, wo Frauen kommentieren, sehr positiv waren. Es gab zum Glück keinen Shitstorm oder frauenbezogene Kommentare, sondern maximal Dinge, die einen fachlichen Hintergrund hatten. Ich glaube, es ist gut gelungen, sie behutsam aufzubauen. Sie hat ja hunderte Spiele im Zweikanalton kommentiert, kennt sich fachlich gut aus und hat bereits Männerspiele der Zweiten Liga oder im Cup kommentiert. Es war also keine Überraschung, sondern eh schon spät genug, dass das passiert ist.

STANDARD: Mit der Partie Dänemark gegen Finnland und dem Herzstillstand von Christian Eriksen hat sie ein heftiges Spiel für ihr Debüt erwischt.

Trost: Das hat sie hervorragend gemacht. Auf das kannst du dich nicht vorbereiten, weil du in so einer Situation an eine Grenze kommst, wie du im Live-Betrieb entscheidest. Lallitsch und Alina Zellhofer, die im Studio war, haben das sehr gut gemacht.

STANDARD: Es gab ja auch Kritik, dass der ORF die Bilder vom Zusammenbruch Eriksens immer wieder gezeigt hat und so lange draufgeblieben ist.

Trost: Immer wieder und so lange? Das stimmt einfach nicht. Aus meiner Sicht gibt es drei Dinge, die passiert sind. Man hat in der Live-Übertragung nicht gleich gesehen, warum er ohne Fremdeinwirkung zusammenbricht. Wir haben das einmal wiederholt, okay, man kann darüber diskutieren, ob man das muss oder nicht, auf der anderen Seite ist das auch eine wichtige journalistische Einordnung für die Zuseher. Dass es nicht um eine Fremdeinwirkung oder irgendein Geschoss aus dem Publikum geht. Das ist wesentlich. Das Zweite war, und das war grenzwertig, dass man die Herzdruckmassage einmal gesehen hat und den Einsatz des Defibrillators. Sonst hat das die Regie der Uefa gut gelöst.

STANDARD: Also keine Kritik?

Trost: Auf der einen Seite hat man gesehen, worum es geht, auf der anderen Seite aber auch, was rundherum passiert. Das gehört zum Leben, und man kann es nicht einfach ausblenden. Man muss sich einmal die anderen Versionen vorstellen: Man geht weg und zeigt das überhaupt nicht mehr. Das wäre die Version mit der Zensur. Oder, und das hat man bei anderen Sendern gesehen, die abgebrochen haben: Über 90 Prozent der Zuseher waren weg, als das Ersatzprogramm gesendet wurde. Und es ist verständlich, warum.

STANDARD: Warum?

Trost: Ich kann Menschen in so einer Situation nicht alleinlassen, wenn ich seriösen Journalismus betreibe. Was passiert? Sie informieren sich woanders. Auf Wikipedia wurde Eriksen zum Beispiel schon während der Wiederbelebung für tot erklärt. Spiele ich ein Ersatzprogramm, sucht jeder irgendwo eine Quelle, wo er sich informieren kann. Ich denke mir, er soll sich lieber bei uns informieren als irgendwo unseriös. Wenn ich nicht live draufbleibe, bekomme ich nicht mit, wie die Rettungsketten funktionieren, was die Verantwortlichen machen, und eines war sehr wesentlich: das Klatschen der Zuseher, nachdem sie gesehen haben, dass es positiv ausgehen wird.

STANDARD: Ein Ersatzprogramm zu senden – wie im Falle des ZDF – war keine Option?

Trost: Nein, ich habe mir das angesehen. Das ZDF hatte in Österreich bei diesem Spiel 60.000 Zuseher, 57.000 sind weggegangen. Damit ist das Argument, spielen Sie ein Ersatzprogramm und warten Sie, kein Gutes, denn jeder Mensch ist mündig und ein mündiger Medienkonsument. Man muss das aber natürlich auch in dem Kontext sehen, dass solche Entscheidungen innerhalb kurzer Zeit getroffen werden müssen. Sich am nächsten Tag darüber aufzuregen ist leicht. Ich habe mit Kritik kein Problem, ich habe nur ein Problem mit jenen, die glauben, dass ihre Meinung die einzig richtige ist.

STANDARD: Also haben sowohl die Uefa als auch der ORF aus Ihrer Sicht alles richtig gemacht?

Trost: Bei uns gibt es zum Beispiel die Vorgabe, wenn etwas auf der Streif (Kitzbühel-Abfahrt, Anm.) passiert: Es wird zwar gezeigt, wie der Sturz zustande kommt, um das einordnen zu können, aber Nahaufnahmen finden nicht statt. Jetzt kann man diskutieren, wie nahe es im Falle Eriksens war. Man hat es durch die Beine durchgesehen, die Kamera der Uefa ist aber nicht extra nahe hingefahren. Im Rückblick kann man alles diskutieren, und vielleicht hätten wir die eine oder andere Aufnahme nicht gebraucht, aber das ist, wie gesagt, eine Live-Situation.

STANDARD: Im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen gab es mit der Nationalspielerin Almuth Schult auch eine weibliche Analytikerin im Studio. Wann ist das beim ORF beim Männerfußball der Fall?

Trost: Beim Frauenfußball haben wir es bereits. Bei den Männern soll es auch in die Richtung gehen. Analysen werden noch kritischer gesehen als Kommentierungen. Wenn jemand oberste Klassen analysiert, dann ist es grundsätzlich von Vorteil, wenn man selbst auf diesem Level gespielt hat.

STANDARD: Haben Sie einen zeitlichen Rahmen definiert, wann das passieren soll? Die kommende Weltmeisterschaft 2022 würde sich anbieten.

Trost: Das wäre nicht uninteressant und eine schöne Sache. Nächstes Jahr finden die Frauen-EM und die Herren-WM statt. Die Entscheidung darüber ist aber immer den personellen Möglichkeiten geschuldet.

STANDARD: ORF-Kommentatoren waren bei vielen Spielen nicht vor Ort. War das Corona-bedingt die richtige Entscheidung oder grenzt das schon an journalistische Selbstaufgabe?

Trost: Die Entscheidung muss immer in Abwägung zur Gesundheitssituation fallen. Wenn jemand ins Ausland fährt, dann nach Hause kommt und für zehn Tage in Quarantäne muss, können wir uns das schon rein aufgrund der dünnen Personaldecke nicht leisten. Auf der anderen Seite ist jede Redakteurin und jeder Redakteur, der vor Ort ist, ein wesentliches Asset. Wenn der Kollege Polzer oder König nicht dort ist, kann er uns nicht sagen, wenn da gerade ein Flitzer rennt und welche Dinge sich vor dem Stadion abspielen. Das diskutieren wir heftig und sehr oft, weil manche Einordnungen vor Ort viel besser funktionieren. Bei den entscheidenden Spielen waren unsere Kommentatoren dementsprechend auch in den Stadien. (Oliver Mark, 12.7.2021)