Für Politikerinnen und Politiker gilt heute in der Zeit der Kommunikationsrevolution mehr denn je die Feststellung der österreichischen Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916): "Wer in die Öffentlichkeit tritt, hat keine Nachsicht zu erwarten und keine zu fordern." Niemand erlebt diese Warnung intensiver als Annalena Baerbock, die grüne Kanzlerkandidatin in Deutschland.

Annalena Baerbock, die grüne Kanzlerkandidatin in Deutschland.
Foto: AFP/AXEL SCHMIDT

Nach 16 Jahren Herrschaft der Union galt die 40-jährige Politikerin weit über die Anhänger ihrer Partei hinaus als eine wählbare ernstzunehmende Alternative. Noch am 25. Mai fand Manfred Göllner, Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, "es unverantwortlich von Armin Laschet, dass er darauf bestanden hat, Kanzlerkandidat der CDU-CSU zu werden". An jenem Tag lag die CDU einen Prozentpunkt hinter den Grünen, und Laschets persönlichen Werte hinkten sogar noch viel weiter, nämlich um zehn Prozentpunkte, von jenen Baerbocks hinterher. Inzwischen liegt die Union elf Prozentpunkte vor den Grünen und Laschet sechs Prozentpunkte vor der grünen Rivalin.

Es geht im Wahlkampf nicht mehr um Baerbocks politische Vorstellungen oder das grüne Programm, sondern nur noch um eines: um ihre Person und ihre nicht endende Pannenserie. Es begann mit der Schönfärberei ihres Lebenslaufs und mit dem Verschweigen der Bonuszahlungen ihrer Partei. Dann wurde berichtet, dass die Politikerin von der Heinrich-Böll-Stiftung zwischen 2009 und 2012 ein Promotionsstipendium von monatlich 1050 Euro für eine Abschlussarbeit über "Naturkatastrophen und humanitäre Hilfe im Völkerrecht" bekam. Baerbock – inzwischen zur Vorsitzenden des Landesverbands der Grünen in Brandenburg aufgerückt – hat die Dissertation jedoch nie abgeschlossen.

Stichelnde Anmerkung

Es folgte die Entdeckung durch den österreichischen Plagiatsjäger Stefan Weber, dass Baerbock massiv von anderen für ihr Buch Jetzt. Wie wir unser Land erneuern. abgeschrieben hat. Noch in einem Doppelinterview mit dem Co-Vorsitzenden Robert Habeck erklärte Baerbock arrogant, sie komme vom Völkerrecht und er vom Bauernhof.

Nach ihrer Abschreiberei wirkte diese stichelnde Anmerkung über Habeck, der Doktor der Philosophie und Autor von seriösen Büchern ist, besonders abstoßend. Der Publizist Stefan Kornelius stellte in der Süddeutschen Zeitung die Frage: "Wie kann eine Politikerin, die Bundeskanzlerin werden will, ein derart klägliches Bewerbungsschreiben abgeben?"

Der Leitartikler der Neuen Zürcher schrieb am Samstag von der "Bauchlandung einer Schummlerin von Dienst", und die linksalternative Taz in Berlin stellte schon die Ablöse der Spitzenkandidatin durch Habeck zur Diskussion.

Doch selbst in der Sackgasse halten die Grünen an Baerbock fest. Diese verteidigte sich indessen mit der saloppen Bemerkung: "Wie es so schön heißt, niemand schreibt ein Buch alleine." Die deutsche Schriftstellerin Nora Bossong, die, wie sie twitterte, "jahrelang zehn Stunden täglich am Schreibtisch sitzt, um Bücher zu schreiben", ist nach Baerbocks Äußerungen zu Recht "etwas fassungslos" gewesen.

In der Corona-Krise ist theoretisch noch alles möglich – außer, dass die grüne Kandidatin nach Angela Merkel ins Kanzleramt einziehen wird. (Paul Lendvai, 13.7.2021)