Magnus Håkonsen ist nun Grundschullehrer in Groruddalen und plädiert dafür, dass die Aufarbeitung der Anschläge im Lehrplan verankert wird.

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Der Gedenkort auf der Insel Utøya, wo am 22. Juli 2011 insgesamt 69 Menschen starben.

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Für Magnus Håkonsen war das jährliche Sommerlager auf Utøya das "Beste aus zwei Welten", wie er sagt: eine Mischung aus politischen Diskussionen und Workshops sowie Freundschaften, Sommerromanzen und Lagerfeuerromantik.

Die Insel liegt im Tyrifjord, unweit der norwegischen Hauptstadt Oslo. Sie ist im Besitz der Arbeiterjugend (Arbeidernes ungdomsfylking), dem Nachwuchsverband der norwegischen Arbeiterpartei. Håkonsen war ihr beigetreten, weil er etwas verändern wollte. Er war schon immer politisch, fasziniert von den Debatten mit Politikern an seiner Schule im Vorfeld von Wahlen, und stieg in der Organisation schnell auf, wurde Vizevorsitzender für die Region Oppland.

Ärger über Kracher

2008 war Håkonsen mit 15 Jahren das erste Mal auf Utøya. Drei Jahre später war der Sommertraum vorbei, als der damals 18-jährige Bursch "vier, fünf scharfe Geräusche hörte, die wie Feuerwerkskracher klangen", erinnert er sich heute. Am 22. Juli 2011 um kurz vor halb sechs Uhr abends stand Håkonsen auf dem Campingplatz in der Nähe des Café-Gebäudes und baute sein Zelt ab.

Er hatte Fieber bekommen, sein Vater war auf dem Weg zur Fährstelle, um ihn abzuholen. Håkonsen plauderte noch mit Freunden, als er sich über die Kracher ärgerte: "Die Leute waren sowieso ängstlich, weil kurz zuvor erst eine Bombe in Oslo explodiert war, und dann schießen irgendwelche Leute mit Böllern", gibt der heute 28-Jährige seine Wahrnehmung wieder. Er wollte die Verantwortlichen zur Rede stellen, ging auf die Geräusche zu: "Immerhin hatte ich eine Funktion in der Arbeiterjugend."

"Wir waren in Lebensgefahr"

Håkonsen kam nur wenige Meter weit, als "eine Horde von Menschen auf mich zulief und schrie, dass ich um mein Leben rennen sollte". Er rannte und realisierte, dass niemand Kracher geworfen hatte, sondern Schüsse abfeuerte. Attentäter Anders Behring Breivik war als Polizist verkleidet auf die Insel gelangt und hatte mit dem Morden begonnen.

"Ich lief Richtung Wald und drehte mich noch einmal um", erinnert sich Håkonsen: "Dann sah ich, wie er einem Mädchen in den Kopf schoss. Mir wurde klar, dass das kein Witz war, wir waren in Lebensgefahr." Er schloss sich einer Gruppe von Jugendlichen an, die er kannte, rannte weiter und stieß auf immer mehr Verletzte. Håkonsen erinnert sich, dass er versuchte, die Blutungen von Schussverletzungen bei mehreren Verwundeten zu stillen.

Heute vor zehn Jahren ermordete Anders Breivik 69 Menschen. Astrid Eide Hoem überlebte – und ruft heute zum Handeln gegen Rechtsextremismus auf.
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Anruf beim Vater

"Und dann erinnerte ich mich an meine Eltern. Ich musste sie anrufen, sagen, dass ich sie alle lieb habe", sagt er. Als er seinem Vater übers Telefon die Situation geschildert hatte, keuchte dieser nur ein "Nein" als Reaktion: "Das werde ich nie vergessen", sagt Håkonsen heute. An dem Tag starben auf Utøya 69 Menschen, in Oslo acht Personen. 40 wurden schwer verletzt.

Wann er sich wieder sicher gefühlt hat? "Lange nicht, das hat sicher Monate oder Jahre gedauert", sagt er und fügt hinzu: "Ich werde immer noch getriggert, leide immer noch unter einer posttraumatischen Belastungsstörung aber ich kann es besser kontrollieren." Jedes Mal, wenn er einen Raum betritt, prüft er ihn auf Ausgänge, überlegt, wie er ihn in einer Notlage am schnellsten wieder verlassen könnte: "Das Gefühl von Unschuld wurde mir genommen", sagt Håkonsen.

Attentäter aus dem Gedächtnis gestrichen

Den Attentäter hat er beim Prozess wiedergesehen. Zuerst bei der Anhörung über die Verhängung der Untersuchungshaft im November 2011. Damals aber noch in einem Nebenraum und via Fernsehschirm. Anschließend auch beim Prozess in Oslo im Gerichtssaal. "Er ist ein kleiner Mann. Als ich seine Stimme hörte, musste ich lachen", sagt Håkonsen: "Ich hatte das Gefühl, dass er mir nichts anhaben konnte." Seitdem spielt Breivik keine Rolle mehr in seinem Leben. Den Namen des Attentäters spricht er nicht mehr aus . Håkonsen vertraut auf das norwegische Rechtssystem, glaubt nicht, dass Breivik jemals wieder freigelassen wird.

Er selbst ist nicht mehr politisch aktiv, er ist Lehrer in einer Grundschule geworden. In Groruddalen, einem Vorort von Oslo. Seine Erfahrungen auf Utøya hätten ihm geholfen, eine Verbindung zu Kindern mit Traumata aufzubauen, sagt Håkonsen. Und das sei vor allem in Groruddalen von Vorteil, wo viele Einwandererfamilien oder Kinder aus schwierigen Verhältnissen leben.

Wichtige Aufarbeitung

Im Unterricht spricht er seine eigenen Erfahrungen dann an, wenn ihn die Kinder danach fragen: "Es ist ja nicht schwer, meinen Namen im Netz einzugeben und meine Geschichte zu finden." Aktiv beginnt er nicht mit dem Thema, weil die Kinder noch sehr jung sind. Doch Håkonsen ist stark dafür, dass die Anschläge in den Lehrplan aufgenommen werden: "Es war nicht nur unser Trauma, sondern ein nationales Trauma." Die meisten Toten Norwegens durch ein Einzelereignis in Friedenszeiten.

Und das wissen auch die Lehrerinnen und Lehrer, behandeln deshalb das Thema so oder so in ihren Stunden. Viele würden aus Verlegenheit den Spielfilm "Utøya: July 22" zeigen und anschließend darüber diskutieren: "Es ist einfacher, einen Film abzuspielen, wenn man nicht weiß, wie man das Thema sonst ansprechen soll", sagt Håkonsen. Doch er hat mit dem Film seine Probleme: "Wie gleich zu Beginn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Sommerlagers als die politische Elite Norwegens bezeichnet werden, die unter sich ausmacht, wer der nächste Premierminister wird, spielt den Rechten in die Hände", sagt er. Das sei auch das Narrativ des Attentäters gewesen. Dabei gebe es gutes Lehrmaterial, das etwa durch das 22.-Juli-Zentrum in Oslo aufbereitet würde und jederzeit abrufbar sei.

Gedenken an Freunde

Håkonsen selbst trifft monatlich und auch am Jahrestag andere Überlebende des Attentats, die in und um Oslo leben. "Das Außergewöhnliche am Anschlag von Utøya ist ja, dass wir uns alle vorher schon kannten, es keine einander fremden Personen wie sonst getroffen hat", sagt er. Auch zum zehnten Jahrestag werden sie jener Freunde gedenken, die sie an dem Tag auf der Insel verloren haben. Dem Tag, als die Idylle ein Ende hatte. (Bianca Blei, 22.7.2021)