Wie vergangene Woche angekündigt, geht es in dieser Kolumne ausschließlich ums Biken. Genauer: ums Graveln. Also um jene Kombi aus Rennradfahren und (softem) Mountainbiken, die in der Welt des sportlichen Freizeitradelns gerade am Sprung vom Gerade-noch-Insiderding zum ganz großen Hype ist.

Thomas Rottenberg

Gravelbiken, also Schotterradeln, geht – so man halbwegs Radfahren kann – praktisch überall. Das funktioniert mit massiven Mountainbikes natürlich auch, klar. Aber die fetten Teile sind auf Güterwegen oft unterfordert – und auf Asphalt so sinnvoll wie SUVs in der Stadt.

Gravelbikes sind dagegen sowas wie das "Zurück zum Ursprung" des Rennradfahrens, als touristisches Asset aber noch so gut wie unentdeckt: Ein paar Gastblogger-Artikel auf den Seiten Tiroler und Salzburger Regionen gibt es zwar schon. Aber von Ideen und Angeboten oder gar Einladungen an eine rasant wachsende Zielgruppe, die auch Geld ausgeben kann und will, ist nichts zu sehen. Noch nicht.

Martin Granadia

Aber es beginnt. Vergangene Woche war ich (eingeladener) Gast beim ersten "Gravel-Event" Österreichs. Ein Event, der sich ganz bewusst nicht als Renn-, sondern als Genuss-Sport-Veranstaltung definierte: "Into the Wold" nannte sich die dreitägige Veranstaltung im Bregenzerwald. Eine Pilotveranstaltung und ein Test – mit rund 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern nicht wirklich groß. Aber dass gut die Hälfte der (zahlenden) Gäste eigens und ohne alle Referenzwerte aus dem Ausland anreiste, sagt etwas.

Sowohl über die Klientel als auch über den Spirit, den sie suchte. Und schon der Untertitel der Veranstaltung ("Müde Beine. Volle Bäuche. Offene Herzen") wies unmissverständlich in jene Richtung, in die es hier gehen sollte: überall dort hin, wo man mit dem Rad – aber auch sonst im Sport – kommt, wenn man Verbissenheit durch Lachen ersetzt. Und sich trotzdem die Kante gibt.

Thomas Rottenberg

Ich schreibe das ganz bewusst: Obwohl "Into the Wold" die erste derartige Veranstaltung ist, von der ich (aber auch in Biketrendfragen weit versiertere Nasen) bisher gehört habe, taugt dieser Dreitagesevent als Best-Practice-Vorlage. Zum einen für Regional- und Tourismusmanager: die bemerken nämlich gerade, dass die Berge in Österreich überall ziemlich ähnlich schön sind – und drei ausgeschilderte Mountainbike-, ein Dutzend Wander- und Nordic-Walking- sowie vier Laufrouten mittlerweile halt wirklich überall Standard sind.

Zum anderen aber auch für Radfreaks auf der Suche nach einem Kick, der sich nicht nur an Distanzen, Höhenmetern und anderen Härtegraden orientiert, sondern die Schön- und Besonderheiten, die Kultur, die Tradition und die Küche einer Region integriert. Einem Kick, der aber nichts mit Wandernadeln, hochdeutscher Zoten-Volkstümel-Dodelmusik oder Seniorenbuskaffeefahrten auf Monsteralmen gemein hat, sondern sportlich "knackig" und doch noch Normalo-kompatibel ist.

Martin Granadia

Das "Spaßige" an "Into the Wold" ist, dass seine Erfinder Matthias Köb, Harald Triebnig und Philipp Altenberg sich all das gar nicht vorgenommen hatten, als sie die Veranstaltung konzipierten: Das Festival ist ihnen mehr oder weniger "passiert". Nicht weil sie einen "Macht uns ein hippes Bike-Festival"-Auftrag eines Tourismusverbandes an Land zogen, sondern einfach skizzierten, wo sie selbst gern dabei wären, was sie aber so nirgendwo fanden: anspruchsvolles Radfahren mit einem hohen Anteil an Lebenslust, einer Prise zeitgeistigem "Bling" rundherum, aber ohne Zeigefinger, elitäres Gehabe oder Ideologie- und Moralkeule.

Martin Granadia

Wie es dazu kam? Köb und Triebnig waren im Vorjahr mit ihren Rennrädern von Wien zu Köb nach Hause in den Bregenzerwald gefahren. Dabei überlegten sie, wie man die unübersehbare "Radtauglichkeit" der Region anders kommunizieren und "highlighten" könnte als bisher.

Darin sind die beiden durchaus erfahren: Bevor sie sich als "Büro Balanka" waren sie bei ihrem früheren Arbeitgeber bei allerlei Kultur- und Kunstevents im Bregenzerwald mit dabei (etwa dem FAQ- Festival) UND spielten dort auch bei der regionalen Startkommunikation des Ikea-Westbahnhof-Projekts in Wien eine nicht unwesentliche Rolle. Da ging es übrigens, am Rand, auch ums Laufen.

Mit Philipp AltenbergER haben die beiden jemanden im Team, der Radfahren "zeitgeistig" versteht: Altenberg betreibt das auf Nachhaltigkeit aufbauende Radgewand- und Accessoire-Label Trikoterie. Und die Touristiker des Bregenzerwaldes sagten: "Macht mal."

Thomas Rottenberg

Der erste Trick an der Sache ist, dass es nicht nur ums Radeln per se geht. Klar gibt es geführte oder per GPX-Tracks angeleitete Durch-die-Gegend-Bolzereien – aber auch das Drumherum passt zur Zielgruppe: Hotels, die täglich bis 13 Uhr Frühstück anbieten, Open-Air-Kino ("The Flying Scotchman") aus einem alten, zum Projektorwagen umfunktionierten Feuerwehrauto, regionale Spitzenköche, die abends am "Festivalplatz" und tagsüber im Gelände entlang der Radstrecken aufkochen. Geführte Architektur-Erklär-Fahrten zu typischen Häusern des Bregenzerwaldes. Oder Yoga-Morgensessions und ein Müsliriegel-Selbermach-Workshop. Und am Eröffnungstag ein (kleines) Wettrennen auf dem lokalen "Pumptrack" von Mellau: "Ein bisschen krachen lassen wollen es ja doch alle. Am besten gleich am ersten Abend, dann kann man das restliche Wochenende etwas ruhiger angehen."

Thomas Rottenberg

Trick eins führt zu Trick zwei: Mit diesem Portfolio schafft man Begehrlichkeiten und weckt Träume, die weit über das reine "Mach Radurlaub in einer schönen Gegend" hinausgehen.

Dafür reicht an sich schon das Wort "Gravelbike": Rennradfahren boomt und ist fraglos wunderschön. Aber dort, wo der Feldweg von der Asphaltpiste weg in den "Wold" abbiegt, enden Freiheit und Spaß.

Ob das an Material oder Fahrkünsten liegt, sei einmal dahingestellt.

Fakt ist, man kommt nur schwer an die zum Graveln nötige Hardware: Rennräder mit breiteren Reifen sind fast überall ausverkauft. Aber bei "Into the Wold" konnte man Premiumbikes der Schweizer Nobelschmiede BMC Probe fahren. (Und diese 7.000-Euro-Bikes dann auf die Weihnachtswunschliste setzen. Lieferzeitenbedingt eher Weihnachten 2022.)

Martin Granadia

Solche Träume zu wecken, bringt wirtschaftlich aber nur dann etwas, wenn sie möglichst viele Menschen übernehmen: Dass "Bundesland heute", die regionale Presse berichtet: eh nett. Lokaler Ruhm freut lokale Honoratioren, schafft aber keine relevante Reichweite.

Zumindest keine, die mehr als Tagesgäste aus der Region bringt – Hotelbetten werden dadurch nicht gefüllt.

Dafür sorgt (hoffentlich) eine Handvoll photogener, aber vor allem reichweitenstarker einschlägiger Influencerinnen mit jeweils sechsstelligen Follower-Zahlen. Sie verbreiten mit Momentaufnahmen und Insta-Stories die Idee, setzen erste Akzente, streue Begriff und Hashtag.

Thomas Rottenberg

Wenn danach oder parallel dazu ein paar Szeneblogger und Journalisten schreiben, ist da nämlich schon ein erstes "Aha" beim Publikum – man muss nicht mehr alles erklären: So kurzlebig Insta-Postings sind, sie legen den Grundstein, sind gut für die Erinnerungs- und Wunschbilderforensik.

Artikel wie dieser und Blogposts von Kollegen werden spätestens dann, wenn bei der Zielgruppe die Planung oder das Vorträumen der Sommeraktivitäten des nächsten Jahres ansteht (also spätestens im Spätwinter 2022), wieder ergoogelt: Ein paar geschickte Werbeschaltungen auf Social Media und ein paar schlau verlinkte Newsletter holen die Erinnerung an die Blitzlichter, die Schönbilder und die dazugehörigen Schlüsselbegriffe wieder ins Bewusstsein.

Thomas Rottenberg

Doch all das funktioniert nur unter einer Bedingung: Die "Geschichte" muss stimmen. Natürlich auch, weil sie wahr, schlüssig und nachprüfbar ist. Weil sie zu den Erwartungshaltungen passt, Sehnsüchte triggert, die Aufgabe herausfordernd, aber nicht unmöglich aussieht.

Aber viel mehr noch, weil sie nicht austauschbar, nicht überall anders einsetzbar, sondern "unique" ist.

Genau das funktioniert im Fall von "Into the Wold" ganz ausgezeichnet – auf mehreren Ebenen. Sport im Urlaub? Jo eh. Radfahren? Kann man fast überall. Rennradfahren? Mhm. Mountainbiken? Welche alpine Region wirbt derzeit nicht mit Mountainbikes (auch wenn im Wald dann der Förster lauert) …?

Thomas Rottenberg

Aber "Graveln"? Obwohl Radmagazine und -portale das Thema seit mindestens zwei Jahren auf "heavy rotation" spielen, haben acht von zehn heimischen Tourismusmanagern das Wort noch nie gehört – und die beiden anderen verwechseln Gravelbiking mit Bikepacking.

Also einer Klientel, die kosteneffizient und spartanisch, aber vor allem meist weit reist, statt das zu tun, was Touristiker glücklich macht: an einem Ort oder in einer Region zu bleiben – und dort dann nicht nur Sport zu treiben, sondern dabei vor allem (auch) Geld auszugeben.

Thomas Rottenberg

Zu glauben, dass fitte geländegängige Radtouris "Low Budget"-Gäste sind, ist aber ein Denkfehler: Wer – so wie ein Teilnehmerpaar – mit zwei 5.000-Euro-Rädern im Auto von Norddeutschland nach Mellau reist, wer mit technischem Schnickschnack und Outfits im gerne noch einmal vierstelligen Bereich ein paar Tage lang über malerische Feld-, Wald- und Schotterwege, über weite Almen, flowige Trails und dramatische Passstraßen brettert, schläft nicht in der Jugendherberge, kocht nicht am Campingkocher und fährt nicht an jeder Hütte vorbei.

Diese Zielgruppe will wahrgenommen, angesprochen und eingeladen werden. Dann kommt sie wieder und bringt Freunde mit: "Wir sind in einem Rennradklub, da graveln jetzt fast alle …"

Martin Granadia

Was solche Geschichten mit dem Jedermensch-Sportaspekt zu tun haben, der ja doch der rote Faden dieser Kolumne ist?

Viel. Denn bei vielen Sport- und Aktivurlaubsgeschichten wird auf einen zentralen Punkt vergessen. Weil da alle nur auf den Traum schauen.

Zu Recht: Denn das Erlebnis ist wunderschön. Doch genau hier schließt sich dann dennoch der Kreis zu dem, worum es hier sonst geht, wieder.

Martin Granadia

Es ist nämlich vollkommen egal, ob Sie von einem Marathon, einem Fünf-Kilometer-Lauf oder einem Gravel-Trip durch den Bregenzerwald träumen: Träumen Sie und machen Sie Ihren Traum auch wahr! Sie werden es nicht bereuen. Aber vergessen Sie das Kleingedruckte nicht. Denn auch "Lifestyle-Sport" ist Sport. Bereiten Sie sich darauf vor. Sonst kann aus dem Traum nämlich auch ein Albtraum werden.

Und für alle, die sich nur fürs Laufen interessieren und es dennoch bis hierher geschafft haben: Nächste Woche geht es hier wieder ausschließlich ums Laufen – um einfache Traum-Trails am Arlberg. (Thomas Rottenberg, 13.7.2021)

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Martin Granadia