Eine Impfpflicht mache Sinn, sagen Expertinnen und Experten – jedoch nur für bestimmte Bereiche.

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Österreichs Impfmotor beginnt zu stottern. Die Anzahl der Impfungen ging zuletzt merklich zurück. 90.000 Impfungen täglich gab es Mitte Juni im Sieben-Tages-Schnitt, vergangene Woche waren es nur noch knapp 70.000 Stiche am Tag – Tendenz weiter sinkend. Das erste Mal seit Beginn der Pandemie ist dafür aber nicht fehlender Impfstoff verantwortlich, sondern ein Mangel an impfwilligen Personen.

Bisher wurden in Österreich 63,66 Prozent der impfbaren Bevölkerung zumindest einmal geimpft, rund 47 Prozent sind vollimmunisiert. Aufgrund der infektiöseren Delta-Variante haben Epidemiologinnen und Epidemiologen zuletzt ihre Berechnungen für das Erreichen einer Herdenimmunität hochgeschraubt: Laut dem deutschen Robert-Koch-Institut (RKI) müssen dafür nicht wie ursprünglich angenommen 80 Prozent, sondern mindestens 85 Prozent einer Bevölkerung immun sein.

In mehreren Staaten diskutieren Politikerinnen und Politiker deshalb eine Impfpflicht für die Bevölkerung im Allgemeinen und besonders sensible Bereiche wie etwa Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen. Am Montag gaben etwa Griechenland und Frankreich bekannt, dass die Covid-19-Schutzimpfung für Pflegepersonal dort verpflichtend wird. Irgendwann, so Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, müsse aber auch die Frage nach einer Impfpflicht für alle gestellt werden.

Die österreichische Bundesregierung hat in dieser Frage bisher stets abgewinkt. Auch innerhalb der Bevölkerung gibt es hierzulande keine Mehrheit für eine generelle Impfpflicht – zuletzt sprach sich in einer Umfrage Anfang Juli (Unique Research, 800 Befragte) aber immerhin ein Viertel dafür aus. Im Herbst sollen dazu gleich zwei Volksbegehren starten – eines für (allerdings nur bei Überlastung des Gesundheitssystems) und eines gegen eine generelle Impfpflicht. Doch was spricht für und was gegen den verpflichtenden Stich?

Für: Schutz der Vulnerablen

Geht es um die Frage, ob und für wen eine Impfpflicht gelten soll, müssen nicht nur die Risiken der Impfung mit jenen der Erkrankung abgewogen werden, sondern auch, ob sich Erkrankungen durch andere Mittel verhindern lassen, sagt die Politikwissenschafterin Barbara Prainsack. Die Bioethikkommission, deren Mitglied Prainsack ist, spricht sich eindeutig für eine Impfpflicht im Gesundheits- und Pflegebereich aus. "Hier ist das als letztes Mittel notwendig, weil die Gefahr für die eigene Gesundheit und die Gesundheit anderer in diesem Bereich besonders hoch ist", sagt Prainsack. Da es sich dabei um besonders körpernahe Tätigkeiten handelt, gebe es keine andere Möglichkeit, vulnerable Personen in diesen Bereichen effektiv schützen.

Auch der Epidemiologe Gerald Gartlehner sagte am Montag in der "ZiB 2": Man solle eine Impfpflicht für den Gesundheitsbereich andenken, da Patienten – darunter vor allem jene, die sich nicht impfen lassen können – in diesen Einrichtungen dem behandelnden Personal anvertraut sind. Die Delta-Variante liefere ein weiteres Argument dafür: Sie ist wesentlich ansteckender, auch in Krankenhäusern erhöhe sich damit die Infektionsgefahr.

Überlässt man die Entscheidung einzelnen Einrichtungen, könnte das laut Prainsack zu einer Konkurrenzsituation führen: Gesundheitspersonal, das sich nicht impfen lassen will, könnte zu anderen Arbeitgebern abwandern. "Davon würde am Ende niemand profitieren."

Geht es um eine Impfpflicht für andere Berufsgruppen, fällt die Einschätzung der Expertinnen und Experten anders aus: Da Kinder in der Regel nicht schwer an Covid-19 erkranken, sei eine Pflicht zur Impfung für Lehrerinnen und Lehrer nicht notwendig, meint Gartlehner. Auch Prainsack sieht eine Impfpflicht in diesem Fall als "nicht gerechtfertigt" an.

Impfpflicht schon möglich

Theoretisch gibt es durch das Epidemiegesetz bereits die Möglichkeit, dass die zuständigen Gesundheitsbehörden für Personen in der Krankenbehandlung, Krankenpflege oder Leichenbesorgung sowie Hebammen eine Impfpflicht anordnen – in dem vollen Ausmaß ist das aber bisher in keinem Bundesland mit der Covid-Impfung geschehen.

In Wien geht man nun den Weg, eine Impfung bei den neu eintretenden Arbeitskräften zu fordern – im Gesundheitsverbund gilt diese für alle Berufsgruppen, egal ob Reinigungskraft oder Herzchirurgin. Und auch in den städtischen Kindergärten müssen neu eintretende Pädagogen nachweisen, dass sie geimpft sind. Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) hat das außerdem für den städtischen Sozialbereich angekündigt. Ähnlich dürfte es in Niederösterreich und der Steiermark sein, in Kärnten und Oberösterreich wird auf hohe Impfraten in Spitälern verwiesen, eine Pflicht brauche es nicht. In Vorarlberg und Tirol würden diesbezüglich aktuell Gespräche und Prüfungen laufen.

Wider: Impfpflicht führt zu Trotz

Auch die Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht sei in der derzeitigen Situation verständlich, sagt Barbara Prainsack. Jedoch sei sie nicht das beste Mittel, um eine hohe Impfungsrate zu erreichen. "Wirkliche Impfgegner erreicht man auch so nicht. Sie finden Wege, das zu umgehen", sagt die Politikwissenschafterin. Dafür würde man Zweifler, etwa jene, die noch abwarten wollen, eher von einer Impfung abbringen. "Wir wissen aus der Forschung: Wenn man Dinge verpflichtend einführt, kommt es oft zu Widerstand."

In der Impfwilligkeit zeige sich zudem auch, inwiefern Bürger dem Staat und Institutionen vertrauen. Das sei auch der Grund, warum die Durchimpfungsrate in internationalen Studien unter jenen Bevölkerungsgruppen, die schlechte Erfahrungen mit Behörden machen, tendenziell geringer ist – etwa unter Migranten und oder der schwarzen Bevölkerung in den USA. "Hier braucht es statt einer Pflicht gute, ehrliche Information nicht nur von oben herab, sondern auch dort, wo die Menschen leben", sagt Prainsack.

Es gehe nun darum, die Impfung niederschwellig anzubieten und strukturelle Anreize, sich impfen zu lassen, noch weiter auszubauen. Mit Impfaktionen ohne Anmeldung sowie Zugangsbeschränkungen wie der Drei-G-Regel und dem grünen Pass befinde sich Österreich in dieser Hinsicht auf einem guten Weg.

Anreize statt Pflicht

Wenn sich die Impfquote auf andere Weise nicht erhöhen lässt, würde Prainsack anstatt einer Pflicht Anreize wie Gutscheine oder kleine Investitionen andenken. "Man könnte damit vor allem junge Menschen motivieren, da sie aus eigenem Gesundheitsschutz weniger Grund haben, sich impfen zu lassen."

Aber auch Impf-Goodies sind zweischneidig. "Es sendet das falsche Signal, dass mit der Impfung etwas nicht in Ordnung sein könnte, sonst brauchte man keine Belohnung", sagt Prainsack.

Zudem stelle sich die Frage, wie man mit Auffrischungsimpfungen und Menschen umgeht, die sich bereits haben impfen lassen. "Man muss sich überlegen, welche Folgen bestimmte Anreizsysteme haben, ansonsten kann schnell ein Ungerechtigkeitsgefühl bei jenen entstehen, die sich ohne Belohnung haben impfen lassen."

In der Politik gibt es keine Partei, die eine Impfpflicht fordert, Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) betonte in dem Zusammenhang am Montag die Eigenverantwortung. Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) sprach am Dienstag hingegen davon, sich im Sinne der Gesamtverantwortung impfen zu lassen. Die Politik habe dafür Sorge zu tragen. (Eja Kapeller, Lara Hagen, 14.7.2021)