Ich stehe im Bruno-Kreisky-Park, hier geht er los, der Stadtwanderweg 11, der erst im September letzten Jahres eröffnet wurde und von hier über vier Kilometer zum Amalienbad in Favoriten verläuft. Er führt an neun Stationen vorbei, die überwiegend der Geschichte und Architektur des kommunalen Wohnbaus gewidmet sind. Also los. Hinter mir steht die Hauptfeuerwache Mariahilf am Margaretengürtel, vor mir ein bronzener Bruno-Kreisky-Schädel, im Park ist jede Hängematte besetzt. Weit hinten erinnert die Aufschrift "Sankt-Johann-Park" daran, dass alles einmal anders war.

Die Route des Stadtwanderweges 11
DerStandard

Am Gürtel befällt mich innerer Widerwille, als hielte mich eine Mauer aus Lärm ab, und dabei übersehe ich beinahe: Der Gaudenzdorfer Gürtel ist hier tatsächlich Grüngürtel (und wo zur Hölle ist eigentlich Gaudenzdorf?). Der Haydn-Hof ist von außen eine Burg, im ersten Stock des Franz-Domes-Hofs lüftet jemand die Teppiche, und ich lande bei der schnaubenden steinernen Eisenbahn am "Eisenbahnerheim" von 1913 schräg gegenüber. Das Café "Einfach so" hat (heute? immer?) geschlossen.

Schräg gegenüber bin ich schon im zwölften Bezirk, hier ist der Leopoldine-Glöckel-Hof, jedes Stiegenhaus hat hier eine andere Farbe, draußen sechsspurig Krach nach Ampelphasen, drinnen Vogelgezwitscher, Menschen auf Bänken, jeder Balkon wird bespielt. Die sportlichen Aktivitäten auf den Verbotsschildern im Hof (Rollerblades! Skateboards!) verraten ihren Jahrgang.

Draußen gibt’s Call-Shops und Western Union und Telefonwertkarten und irgendwo steht "Dominic L. du Hurensohn". Im Haydn-Park ein paar Hundert Meter weiter turnen Buben eifrig am Fitnessstudio unter freiem Himmel.

Ein Luxus fürs Volk

Und dann kommt eine Sensation: Der Reumannhof, benannt nach Jakob Reumann, Bürgermeister von 1919 bis 1923. Pergolen, Messinglampen, acht Stockwerke "schöner wohnen" für alle. Eine große Terrasse erinnert fast schon an ein Luxushotel, ich will jedes Geländer streicheln, jede sternförmige Fliese bestaunen, jeden Messingknauf. Im Nebenhof ein paar Stufen tiefer ist es gleich ein paar Grad kühler, ein Brunnen plätschert. Das ist ein Gemeindebau? Zig Kindergärten gibt es hier, Ateliers am Dach, wenn man in den Lift steigt, schaut man plötzlich über halb Wien. Mir fällt auf: Gemeindebauten sind zugänglich, hier können alle durchgehen, in einem neuen Genossenschaftsbau ginge das ohne Schlüssel nie. "Gemeindebau Goodlife" hat jemand mit Edding an die Wand geschrieben. Es stimmt.

Der 1924 erbaute Reumannhof am Margaretengürtel erinnert fast an ein Luxushotel.

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Ich will weg vom Gürtel, starre in der Siebenbrunnenfeldgasse kurz vor mich hin, nein, danke, ich suche nicht das Fundamt. Hier lockt im Giacomo Matteotti gewidmeten Gemeindebau das Café Fendistüberl mit Spitzenvorhängen, an den Tischen im Schanigarten wird gewürfelt, "es weiß eh a jeda ois in Margareten", sagt wer, und wenn jemand von "in der Stadt" spricht, meint man die Innenstadt. Im Keller gibt es Pooltisch und Discokugel, im Schankraum hängen leicht bekleidete Menschen aus den 1990ern, "Schwechater Hopfenperle. Frisch vom Faß!", sagt ein Schild, dahinter leuchten die Rosen im Garten.

Weiter geht es durch den Julius-Popp-Hof, hier befindet sich das Kinderambulatorium, es rauscht ein Brunnen mit einem großen Bären und einem kleinen Bären, dahinter blitzt das neue Hochhaus an der Kundratstraße hervor. Ein Schild erinnert an Popp, "von Beruf Schuhmacher, Sozialpolitiker und Pionier der Österreichischen Arbeiterbewegung", "Gatte der legendären Frauenrechtlerin Adelheid Popp" steht leider nicht da. Kurz später ist das Matzleinsdorfer Hochhaus mit seinen eleganten 20 Stockwerken aus den 1950er-Jahren ein Tor zur Welt. Ums Eck der nächste Kindergarten, augenrollende Zwerge legen an seiner Außenwand die Mützen zusammen und blicken betreten auf das tote Schneewittchen im gläsernen Sarg, die Bremer Stadtmusikanten rocken das Mosaik.

Verwunschener Park

Derweil ich den Matzleinsdorfer Platz bei Gluthitze überquere, habe ich innerlich mit allem abgeschlossen, mir tun auch schon die Füße weh, aber durch die Unterführung lockt ein anderes Jahrhundert, der traumhaft verwunschene Waldmüllerpark, zwei Mädels machen am Laptop in der Wiese ihre Hausaufgaben, ein Liebespaar knutscht im Gras, der riesige Kaukasische Flügelnussbaum hat schon alles gesehen.

Ein Schritt über die Herzgasse, wir sind jetzt in Favoriten, eine riesige Baustelle kündet vom zukünftigen neuen Stadtviertel an der Laxenburger Straße um die alten Ziegelhallen, der Kreis schließt sich zum Bevölkerungszuwachs in Wien, der einst zu den Gemeindebauten führte, auch was noch nicht hier steht, wird einmal Stadtbild sein.

Eine prunkvolle Fassade an der Laxenburger Straße gibt Rätsel auf, Google erzählt mir die Geschichte vom ehemaligen Arbeiterheim samt Festsaal für 3000 Menschen, vom ersten Favoritner Kino, von der Besetzung durch die Austrofaschisten, der Beherbergung von Flüchtlingen.

Ein kurzer Abstecher noch in den Zürcher Hof mit seinem monumentalen Arbeiterfries, es riecht nach frisch gewaschener Hälfte, wie es offenbar in jedem Gemeindebau nach frisch gewaschener Wäsche riecht, ermattet schaffe ich es noch bis zum Amalienbad, letzte Station, dann schluckt mich die U-Bahn, und ich fahre zurück "in die Stadt" und war doch die ganze Zeit da. (Julia Pühringer, LEBEN in WIEN, 25.7.2021)

Mosaikverziert: das Matzleinsdorfer Hochhaus.

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