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Mitglieder der Kuper-Island-Industrial-Schulband des gleichnamigen Internats. Auf dem Gelände der Schule, die von 1890 bis 1975 in Betrieb war, wurden mehr als 160 Leichen entdeckt.

Foto: ROYAL BC MUSEUM via Reuters

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Vor kurzem installierte Solarlichter markieren die Begräbnisstätten der Cowessess First Nation auf dem Gelände eines Internats, wo 751 nicht gekennzeichnete Gräber entdeckt wurden.

Foto: REUTERS/Shannon VanRaes

Der Chief der Cowessess First Nation, Cadmus Delorme, bei der Unterzeichnungszeremonie mit Kanadas Premierminister Justin Trudeau. Die Cowessess First Nation ist die Erste, die sich selbst um die Pflegeeinrichtungen für ihre Kinder und Jugendlichen kümmern darf.

Foto: Kayle Neis / AFP

Die Abgeordnete Mumilaaq Qaqqaq hält das Bild des Priesters Johannes Rivoire in die Kamera, gegen den in Kanada ein Haftbefehl wegen Kindesmissbrauchs in einem Internat vorliegt. Er hält sich in Frankreich auf.

Foto: imago images/ZUMA Press

Das Ausmaß der Verbrechen wird mit jedem Fund dramatischer: Hunderte nicht gekennzeichnete Gräber wurden in den vergangenen Wochen auf den Grundstücken von ehemaligen Internaten in Kanada entdeckt. Es soll sich dabei um die letzten Ruhestätten von zahlreichen indigenen Kindern handeln, die in einem rassistischen und gewalttätigen Schulsystem zu Tode kamen. Die Identität vieler Opfer oder wann und woran sie gestorben sind, wird sich wahrscheinlich nie vollständig klären lassen. In Kanada wurde aber eine erneute Debatte über die Vernachlässigung der indigenen Bevölkerung und vor allem indigener Kinder losgetreten.

Denn nicht nur in den Jahren von 1883 bis 1996 – als die rassistischen Internate in Betrieb waren – wurden indigene Minderjährige in staatlicher oder kirchlicher Obhut vernachlässigt. Bis heute sind die Nachkommen Indigener im System benachteiligt.

Kindesabnahmen bis heute

Denn laut Statistiken der indigenen Interessenvertretung Assembly of First Nations (AFN) befinden sich rund 40.000 Kinder und Jugendliche in Pflegeunterbringungen. Geht man nach den Zahlen der Bevölkerungsstatistik, ist mehr als die Hälfte der Kinder, die sich in fremder Pflege befinden, aus indigenen Familien. Und das, obwohl sie nur acht Prozent der Kinder und Jugendlichen in Kanada ausmachen. Das Pflegesystem für Minderjährige ist zumeist Sache der Provinzen, und so variieren diese Zahlen auch landesweit. In der zentral gelegenen Provinz Manitoba machen indigene Kinder und Jugendliche sogar 95 Prozent der Betreuten aus. Dabei haben die Adoptiv- oder Pflegefamilien oft keine Kenntnis der jeweiligen Ursprungskultur.

Dass die Zahlen so hoch sind, führt die indigene Aktivistin und Universitätsprofessorin Cindy Blackstock im Gespräch mit der BBC auf mehrere Gründe zurück: In den Familien der staatlich abgenommenen Kinder würden oft Armut, eine schlechte Wohnsituation, Drogenmissbrauch, mentale Probleme und physische Gewalt vorherrschen. "Das geht auf das generationenübergreifende Trauma der Internate zurück", sagt Blackstock. Sie hat bereits mehrfach erfolgreiche Prozesse in Sachen Systemreform geführt – im Moment gegen die Hauptstadt Ottawa im Zusammenhang mit Entschädigungszahlungen für jene, die unter Zwangsabnahmen gelitten haben.

Entscheidungshoheit für Indigene

Die Cowessess First Nation war erst vergangene Woche die Erste, die die Entscheidungsgewalt über das Kindeswohl auf ihrem Gebiet von Ottawa zurückerhielten. Bei der Zeremonie war auch Kanadas Premierminister Justin Trudeau anwesend, der mit dem Versprechen angetreten war, die Beziehungen Kanadas zu seinen Ureinwohnern zu verbessern, und erst wenig vorzuweisen hat.

Nach unterschiedlichen Schätzungen nahmen die Polizei und andere staatliche Behörden bis zu 150.000 Kinder und Jugendliche von First-Nation-, Métis- oder Iniutfamilien mit und verfrachteten sie in eines der rund 150 Umerziehungsinternate. Dort sollte ihnen ihre indigene Kultur und Identität genommen und durch eine "zivilisiert westliche" ersetzt werden. Die Realität war, dass es Prügel und Schläge gab, wenn die Kinder ihre Sprache statt der englischen oder französischen Sprache verwendeten, und sie auch sexuellem Missbrauch ausgesetzt waren. Krankheitswellen erfassten die ständig überfüllten Schlafsäle und waren wohl für einige der zwischen 10.000 und 50.000 Todesfälle in den Schulen verantwortlich. Tuberkulose oder auch die Spanische Grippe hatten unter den schlimmen hygienischen Umständen leichtes Spiel.

Missbrauchsvorwürfe gegen Priester

Erst vergangene Woche forderten zwei Abgeordnete des kanadischen Parlaments von Justizminister David Lametti, dass er eine Untersuchung der "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" initiiert. Mumilaaq Qaqqaq und Charlie Angus wollen einen unabhängigen Ermittler, der mit der Macht ausgestattet wird, jene vor Gericht zu bringen, die sich des Missbrauchs von Kindern schuldig gemacht haben. "Es reicht", sagte Qaqqaq bei einer Pressekonferenz. Die Abgeordneten hielten dabei die Bilder von zwei Priestern in die Kameras: Johannes Rivoire und Arthur Lavoi.

Rivoire werden sexuelle Missbrauchsfälle während seiner Zeit in den 1960er-Jahren im St.-Anne's-Indian-Internat im Norden Ontarios vorgeworfen. Er befindet sich in seiner Heimat Frankreich. Ein Haftbefehl wurde von den kanadischen Behörden im Jahr 1998 erlassen. Seitdem kämpfen Betroffene für seine Auslieferung. Lavoi soll in mehr als 300 Fällen Kinder körperlich und sexuell missbraucht haben. Er starb im Jahr 1991.

Die Heilung nach dem "Genozid"

Im Endbericht der von Trudeau eingesetzten "Wahrheits- und Aussöhnungskommission" aus dem Jahr 2015 war im Zusammenhang mit dem rassistischen Schulsystem von "kulturellem Genozid" die Rede.

Ein Begriff, der auch nach den jüngsten Leichenfunden Verwendung findet: "Es ist unmöglich, über die Taten des Genozids und die Menschenrechtsverletzungen hinwegzukommen. Heilung ist ein andauernder Prozess, und manchmal funktioniert er, und manchmal verliert man Menschen, weil die Bürde zu schwer ist. Wir sind wieder an einem Zeitpunkt angelangt, an dem wir dem Trauma begegnen müssen, das diese Taten des Genozids ausgelöst haben. Jedes Mal, wenn wir das machen, wird es möglich, wieder ein bisschen mehr zu heilen", heißt es in einem Statement des Penelakut-Stamms, der Anfang der Vorwoche mehr als 160 "undokumentierte und nicht markierte Gräber" entdeckt hat. (Bianca Blei, 21.7.2021)