Alexia räkelt sich nicht nur für Männer, sondern auch zur eigenen Freude auf der Motorhaube: Julia Ducournaus "Titane" verstört positiv.

Foto: Carole Bethuel

In der Nacht donnerte es kräftig in Cannes, und am Himmel explodierte es in vielen Farben. Im Trubel des Festivals kann man leicht einmal auf ein Datum vergessen, und so brauchte manch ein Besucher eine Weile, um den Kalender zu adjustieren: Ach ja, Frankreich feierte am 14. Juli den revolutionären Sturm auf die Bastille.

Das passte auch deshalb gut ins Bild, als der Wettbewerb im letzten Drittel durch Neulinge noch einmal kräftig Fahrt aufgenommen hat. Die 37-jährige Französin Julia Ducournau ermöglichte mit Titane einen der wildesten Ritte des Festivals, eine bizarre Mischung aus Slasher-Film im New-Wave-Look und befremdlicher Cronenberg’scher Körpermutation, die in ein anrührendes Drama über Erlösung mündet.

Wie passt das alles zusammen? Exzellent, wenn man wie Ducournau den Druck konstant im oberen Bereich hält und mit Bildern operiert, die durch Überschreitungen etlicher Normen verblüffen. Alexia, eindringlich verkörpert von der nichtbinären Schauspielerin Agathe Rousselle, trägt seit einem Unfall als Kind nicht nur eine Titanplatte im Schädel, sondern fühlt sich auch ansonsten zu Metall, speziell zu schnellen Autos, libidinös hingezogen. Mit sie belästigenden Männern, generell Körperkontakt hat sie weniger am Hut: Wer ihr zur nahe kommt, dem stößt sie ihr Haarstäbchen ins Ohr. Vorsicht, Ducournau schont ihr Publikum nicht!

Gendernachgeschärft

Doch Titane wäre nur eine gewiefte Genrevariation, wenn sich der Film mit gendernachgeschärften Racheimpulsen begnügen würde. Ducournau nutzt die Möglichkeiten des Horrorfilms dazu, um von einem umfassenden Trip ins Posthumane zu erzählen: Nicht allein Geschlechterrollen, sondern auch die Grenzen zwischen Mensch und Maschine werden von ihr mühelos aufgehoben. Alexia wird von einem Auto geschwängert – Motoröl tropft ihr aus dem gewölbten Bauch –, eine Art Asyl findet sie daraufhin bei einem Feuerwehrmann (Vincent Lindon als viriler Muskelberg), der sie für seinen verschollenen Sohn hält.

Aus dieser Begegnung entsteht neue tiefe Verbundenheit. Titane scheint uns sagen zu wollen: Man muss sich nur dafür entscheiden, im anderen ein Wunschbild zu sehen, um auf diesem Umweg zur "Menschlichkeit" zurückzufinden.

Narzisstische Männlichkeit

Von solchen Übertragungen erzählt auch US-Regisseur Sean Baker in Red Rocket, allerdings ganz anders herum gepolt, als Realsatire über narzisstische Männlichkeit: Donald Trump steht ante portas. Simon Rex brilliert als hyperaktiver Pornodarsteller, der pleite nach Südtexas kommt, um dort als Parasit bei seiner Exfrau und deren Mutter einzuziehen. Dann aber entdeckt er in der lolitahaften Verkäuferin eines Donut-Lokals (Suzanna Son) sein nächstes Geschäftsmodell – mit schmierigen Sprüchen will er sie herumkriegen und als Sprungbrett für sein Comeback gewinnen.

Bakers hinterfotzige Charakterstudie eines so selbstsüchtigen wie feigen Mannes, dessen Lügengebäude immer größer wird, lebt von der Glaubwürdigkeit seiner realistischen Milieus. Und von der Courage, in der Darstellung von Lächerlichkeit aufs schmerzhafte Ganze zu gehen. Fremdschämen war nie schöner. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, 16.7.2021)