Marktschreiber und Writer in Residence Mario Schlembach bei der Arbeit: "Der Mario wird vier Wochen hier sein und einen Text schreiben."
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Nach meiner Ankunft spaziere ich zur Unterkunft. Eine Wohnung in einem größeren Einfamilienhaus. Kaum Tageslicht dringt in die Räume. Mein etwa 70-jähriger Hausherr führt mich freundlich in die Tücken der Maschinen ein und fragt zum Abschluss, was ich hier mache? Es fällt mir noch immer schwer, alles, was nicht mit körperlicher Verausgabung zu tun hat, als "Arbeit" zu bezeichnen, also antworte ich: "Urlaub!"

Entlang der menschenleeren Straße Richtung Marktplatz. Im goldverzierten Schaufenster eines neueröffneten Friseursalons erschrecke ich vor meinem Gesicht. Ich sei mutig, meine Haare in fremde Hände zu legen, sagt Edith. Wenn ich eine Sache auf meinen bisherigen Reisen gelernt habe, dann das: Friseur und Friedhof – es gibt wohl kaum einen schnelleren Weg, in einen fremden Ort einzutauchen.

Nach dem ersten Abtasten fragt Edith, was ich hier mache? Ich stammle irgendetwas von "Versuchskaninchen" und "Schreibaufenthalt", woraufhin sie mir von einem bekannten Schriftsteller erzählt, der sich von ihr regelmäßig die Haare schneiden ließ. Sie redeten viel und anschließend hätte er ihr gesamtes Gespräch in seinem Notizbuch festgehalten. Vielleicht ist ja das der Beginn der Literatur überhaupt: so tief wie möglich aus dem Material der Wirklichkeit zu schöpfen, um sie neu zu formen?

Die erste Nacht

Auf dem Friedhof liegt ein Grab offen. Der Totengräber hat die Erde links und rechts aufgeschüttet. Um später den Sarg hinabzulassen, müssen die Träger auf die Hügel steigen. Es ist eine längst veraltete Technik, die wir in meinem Heimatort seit Jahrzehnten nicht mehr praktizieren. Weiß er es nicht besser, oder gibt es selbst im Graben eine Tradition, die in dieser Gegend nicht gebrochen werden darf? Ich überlege kurz, ob ich Missionar spielen soll. Nein! Nichts ist Schlimmer als Besserwisser, die einem das eigene Handwerk erklären wollen. Ich bin nur hier, um alles aufzuschreiben – ohne mich einzumischen.

Freiheitsstatue vorm Metropol: Grönemeyer hat hier sein erstes Österreich-Konzert gegeben.

Die erste Nacht schlafe ich unruhig. Während ich einen Kaffee koche, schiebt eine Frau ihren Rollator an meinem Fenster vorbei und ruft ihre Kätzchen. Sie lacht. Neben der Küche setze ich mich in eine dunkle Kammer, die ich zu meinem Schreibzimmer ernenne. Ich notiere alles Erlebte in ein schwarzes Heft, bis ich an den Punkt komme, nur noch über das Schreiben zu schreiben. Über den penibel gepflegten Garten verlasse ich das Haus.

Die Luft ist schwer und drückend. Nach wenigen Schritten den Sulm-Fluss entlang, gehe ich zu Puppe’s Naturkostladen und versorge mich mit den nötigsten Dingen. Während mir Veronika den bestellten Laib Brot einpackt, fragt sie, was ich hier mache? "Ich bin der Einladung des Kürbis gefolgt", antworte ich, im Versuch witzig zu sein. Veronika reagiert mit einem abgeklärten "Aha", deutet meinen Dialekt irgendwo zwischen Burgenland und Wien und erzählt anschließend, dass sie früher Haushaltslehrerin in der Stadt gewesen sei und erst spät begriffen habe, wie schön es auf dem Land sein kann, wo nicht auf allen zwei Metern die Gefahr einer Hundstrümmerlbombe bestehe. Als ich den Endiviensalat mit den anderen Dingen in meine viel zu kleine Stofftasche drücken möchte, schaut sie mich entsetzt an. "Ich habe meinen Schülern immer gepredigt: Euren Salat müsst ihr behandeln wie eine Frau."

Gewisse Rituale und Strukturen ändern sich von Dorf zu Dorf nicht, nur die Nuancen ...

Blasmusik, fragende Blicke

aufWIESern. Heurigengarnituren mit Tischtüchern. Blasmusik. Essensstände. Wein zum Ab-Hof-Verkauf. Immer wieder drehen sich die Köpfe der Alteingesessenen zu mir, und ich sehe in ihren Gesichtern einen fragenden Blick. Conny von der Kulturinitiative stellt mich einigen Leuten vor und versucht zu erklären, was ich hier mache: "Das ist der Mario. Er ist unser allererster Writer in Residence." – "Wos?", fragt ein älterer Mann. – "Der Mario wird vier Wochen hier sein und einen Text schreiben." – "Für die Dorfchronik?" – "Nein, der Mario ist Schriftsteller und ..." – "Geht er leicht von Verein zu Verein und schreibt wie a Spion alles mit?"

Um das Gespräch abzukürzen, antwortet Conny: "Was vielleicht auch noch interessant ist, der Mario ist Totengräber ..." – "Ah ja, der Sommer ist eh gerade mörderisch." Nachdem die amtierende Weinkönigin ihre Eröffnungsrede gehalten hat, werde ich gebeten, mit ihr ein Foto zu machen. "Man muss lernen, nicht überall mitzutrinken", sagt sie mit warnendem Unterton.

Vor dem Schnapsstand streiten sich zwei Männer, was eine Kellnerin mit den Worten kommentiert: "Es muss scho wieda Vollmond sein. Da finden sich zwa Deppen wie die Magneten." Die jüngsten Bauern fahren mit den größten Traktoren vor. Ich kenne diesen Ort nicht, und doch ist mir all das vertraut. Gewisse Rituale und Strukturen ändern sich von Dorf zu Dorf nicht, nur die Nuancen werden anders gesetzt. Das Leben auf dem Land – egal wo: ein Dialekt in schier unendlichen Farben. Drei Bier. Bratwurst. Wein. Am nächsten Morgen erwache ich in diese Trance hinein – weder nüchtern noch betrunken zu sein.

Tiefe Einblicke

Im Gang zur Wohnungstür treffe ich auf meine Hausherrin. Auf die Frage, was ich hier mache, antworte ich mit einem genuschelten: "Irgendwas mit Schreiben." Innerhalb weniger Minuten gewährt sie mir einen tiefen Einblick in ihre Lebensgeschichte. Als sie sieht, dass ich nicht ausweiche, sondern verstehen möchte, redet sie weiter: Sie spricht über ihre Familie, der dieser ganze Dorfgrund einmal gehörte, als hier noch keine Marktgemeinde angesiedelt war. Sie spricht über ihre Kindheit auf einem Weingut und problematische Erbschaftsfolgen. Sie spricht darüber, sich den neuen Technologien anpassen zu müssen. Sie spricht über ihren Mann, der gerade wieder auf ein Begräbnis müsse, weil er im Kirchenchor singt und alles organisiert. "Drei Beerdigungen in zwei Wochen!" Sie spricht über ihren Sohn, der erst vor kurzem seinen Lebensgefährten verloren hätte ... Tränen sehe ich in ihren Augen, und als sie sich entschuldigen möchte, weil sie denkt, mich von meiner Arbeit abgehalten zu haben, sage ich: "Jederzeit!"

Manhattan: "Für einen Moment bin ich so glücklich, dass ich weinen könnte ... "

Einladung zum Mittagessen

Auf dem Weg zu ihren Eltern geht Conny mit mir an den Garagenplätzen ihrer Wohnsiedlung vorbei. Vor einigen Monaten hätte sich dort jemand erhängt, und erst nach drei Wochen sei er gefunden worden. Sie habe den Stellplatz übernommen, aber der Gestank sitze bis heute fest. Mozzarella und Tomaten mit Kürbiskernöl zur Vorspeise. Danach Pizza. Mein italienischer Vorname verleitet wohl, sich essenstechnisch an den Gast anzupassen. Ich erfahre Lokalpolitisches vom Vater: "Das Dorf wird von einer Liste regiert, die zum Wohle der Bürger gegründet wurde." Beim Nachtisch fragt mich die Mutter, was ich hier mache? "Ich bin der Praktikant von der Conny!" Alle lachen.

Spaziergang durchs Dorf

Vorbei an einer Versuchsstation, wo in großen Glashäusern mit Gurken- und Kürbisvariationen experimentiert wird. Danach folge ich einem beschilderten Wanderweg. Ich deute die Richtung eines Pfeils falsch und verlaufe mich. Statt umzukehren, wandere ich weiter und weiter. Mein Handyakku versagt. Ich bin orientierungslos und gehe querfeldein. Erst nach etlichen Kilometern treffe ich auf einen betagten Mann mit Gehstock, der mich fragt, was ich hier mache? Gleise Richtung Sonnenuntergang, bis ich zu einem Bahnhof gelange. Während ich auf den nächsten Zug warte, sehe ich eine etwa 40-jährige Frau in einer dunklen Ecke stehen: Kopftuch. Dicke Sonnenbrille. Tiefe Wunden in ihrem Gesicht. Sofort wendet sie mir den Rücken zu.

Kulinarisches Sommerkino

In der Schlosstenne, die zu einem Theater umgebaut wurde, wird ein französischer Film über die Misere von Bauern, die nach und nach ihre Wirtschaft verlieren, gespielt. Was ihre Familien über Generationen hinweg geschaffen haben, ist wegen der globalisierten Marktsituation in Gefahr, und es wird zum Protest aufgerufen. Es ist – wie das Leben selbst – eine Tragödie im Gewand der Komödie. Nach der Vorstellung wird vom Jägerwirt ein zum Film passendes Menü serviert. Die bunten Lichterketten im Maisfeld legen eine Art Weichzeichner über die Szenerie. Gegen Mitternacht ziehe ich mit den Übriggebliebenen weiter in eine Spelunke, die in früheren Tagen das Epizentrum des regionalen Nachtlebens gewesen sein soll: Metropol. Vor der Tür steht ein drei Meter hohes und in einem dunklen Blau gestrichenes Imitat der Freiheitsstatue. Herbert Grönemeyer hat hier sein allererstes Österreich-Konzert gegeben, bekomme ich gesagt. Gin Tonic. Averna Sour. Bevor die Sonne aufgeht, legen wir uns auf den noch warmen Asphalt und warten, bis die Lichter auf uns zurasen. Niemand fragt, was ich hier mache.

Heute wird entschieden, ob der Kreisverkehr von einem Ausländer gestaltet werden soll.

Samstag beim Kirchenwirt

"Schau, ka Hockn, owa mitn Hund gehen s’ Gassi!", sagt ein Stammgast zur Kellnerin. Ich gebe mich dem Steirer-Schnitzeldelirium hin. Zum Fußballplatz. USV Donauversicherungen Wies gegen FC Erdbewegungen Büchsenmeister St. Nikolai. "Geh, Schiri, gib dem Hund a Koatn! Nur vo hinten eine ohne Boin", schreit ein Fan der Heimmannschaft. "Gelbe Karte für den Spieler mit der Nummer 14", klingt es durch die kratzenden Lautsprecher. "Im Namen des Vereins darf ich nun recht herzlich unseren Herrn Bürgermeister begrüßen sowie die zahlreich anwesenden Gemeinderäte und unseren allerersten Writer in ... Wos haßt des?" Der Stadionsprecher bekommt etwas ins Ohr geflüstert "Unser allererster Marktschreier Marion Schlemmbacher! Und – verehrtes Publikum – nicht vergessen: Unsere fleißigen Helfer warten auf Sie bei der Grillstation. Es gibt a guates Kotelett und dazu a frischgezapftes Bier. Bei so einem schönen Wetter Leitln, wos gibt’s Besseres?"

Aufsteirern in Lederhosen

Ich folge wie ein Lemming in geborgter Lederhose Conny und ihrer Volkstanzgruppe, die heute drei Auftritte hat. Der Zug nach Graz ist nach wenigen Stationen überfüllt. Trachten in der Konserve. Alle fahren gratis. Zum Rathaus. Schilcheraperitif. Kurz vor dem ersten Tanz wird ein kleiner Bub auf die Bühne geführt, der seine Mama verloren hat. Die Moderatorin von Steiermark heute will ihn beruhigen und droht, ihn zu heiraten.

Vor mir Burschen in blauen Poloshirts, auf denen "Frauenversteher" und "FBI: Female Body Inspectors" geschrieben steht. Mit einem lauten "Jihaa" kommentieren sie jedes Geschehen. Eiswalzer. Danach Schuhplattler. Zum Abschluss lobt die Moderatorin die Brauchtumspflege meiner Tanzgruppe. Hinauf zum Karmeliterplatz. Blunzengröstl mit Sauerkraut. Es ist heiß und das Bier schnell warm. Klopause. Zum Färberplatz. Ein älterer Moderator auf der Bühne, der es schafft, in jedem Satz ein Schön oder Wunderschön unterzubringen. Hypnotische Freundlichkeit in einer Zuckerwattewelt. Meine Gruppe macht sich bereit. Ähnlicher Tanz wie zuvor. Anderer Pärchenmix.

Ich werde mehr und mehr euphorisiert und wippe jetzt im Takt mit dem Kopf. Immerhin. Zu mehr reichen meine tänzerischen Fähigkeiten nicht. Als Abschluss eine Drehfigur, bei der die Frauen abheben. Schwierigkeitsgrad zehn – im Fachjargon. Ich schaue zu. Ich höre zu. Aber verstehe noch immer rein gar nichts. Weiter zur nächsten Station. Tummelplatz. Ich muss aufpassen, bei meiner Trachtenentourage zu bleiben, um nicht in der Masse verloren zu gehen. Langsam geht die Sonne unter. Zeit für weiße Mischungen. Wir umarmen uns alle. Den letzten Tanz sehe ich nur noch so, wie man Fische in einem Aquarium beobachtet. Irgendwie beruhigend.

Mario Schlembach, geb. 1985, ist Schriftsteller und Totengräber: www.bauernerde.at. Er war der erste Writer in Residence der Kulturinitiative Kürbis Wies: www.kuerbis.at.
Foto: Der Standard

Die Läden der Stände fallen nach sieben Uhr, und es geht in den Lokalen weiter. Gedränge. Heiterkeit. Ich versuche einer Frau – oder mehreren – zu erklären, was ich hier mache, und stottere von meinem Traum von Literatur. Für einen Moment bin ich so glücklich, dass ich weinen könnte. Bin das ich oder der Schilcher? Egal. In einem Meer aus Chips und Gummizeug im Zug zurück. Am Klo vor mir schaut eine Lederhose aus der Tür. Der dranhängende Oberkörper liegt über der Metallschüssel. Ausgesteirert. Ich erwache in einem fremden Bett und frage mich, was ich hier mache.

Noch kein Wort geschrieben

Morgenmüde. Seit meiner Ankunft kein Wort geschrieben. Nur dieses Gestammel hier. Heute wird entschieden, ob der neue Kreisverkehr von einem Ausländer mit drei Kunststoffskulpturen gestaltet werden soll: drei Grazien. "Kunst oder Geldverschwendung", schreibt das Lokalblatt. "Mega-Aufregung." (17.7.2021)