Die Tour de France ist Sport auf der größtmöglichen Bühne, für die nur die größtmöglichen Gesten und Geschichten gut genug sind. Am Sonntag geht sie zu Ende.

Wenn am Sonntag die Tour de France mit der seit mittlerweile fast 50 Jahren traditionellen Etappe entlang der Champs-Élysées zu Ende geht, ist ein weiteres Kapitel des größten, bekanntesten und prestigeträchtigsten Radrennens der Welt geschrieben. Der Slowene Tadej Pogačar wiederholt seinen Triumph aus dem Vorjahr, als er sich zum jüngsten Toursieger aller Zeiten krönte. Mark Cavendish aus Großbritannien bricht den Langzeitrekord von Eddie Merckx, der bislang bei insgesamt 34 Etappensiegen bei der Tour stand. Die Zahl klingt ebenso absurd wie die Tour selbst – fast 3500 Kilometer, 50.000 Höhenmeter auf 21 Etappen in 23 Tagen.

Roland Barthes schreibt in Was ist Sport (Brinkmann und Bose, 2019) von der Tour als Epos, als Mythos, "realistisch und utopisch zugleich". Die Fahrer werden zu heroischen Figuren, die vergebenen Trikots, allen voran das gelbe für den Gesamtführenden, zum rituellen Zeichen des Sieges, der Dekor ist der eines großen Krieges: Eine ganze Armee von Begleitern wird die Führung und Intendanz spielen. Diese Armee hat ihre Generäle, die, aufrecht, das Auge auf den Horizont gerichtet haben. Die Tour de France ist Sport auf der größtmöglichen Bühne, für die nur die größtmöglichen Gesten und Geschichten gut genug sind. Aus und in Europa gewachsen, lebt der Radsport genau davon – von den Mythen, den Traditionen, die ihm eingeschrieben sind. Mit dabei im Rennen um die vordersten Plätze ist mit EF Education-Nippo ein Team, das seit einigen Jahren den Status quo auf unterschiedlichsten Ebenen herausfordert. Nicht nur optisch sticht EF durch die Kooperation mit der Londoner Lifestyle- und Performance-Edelmarke Rapha sowie die pinke CI heraus, die sich über Trikots, Helme, Socken, Räder, kurz: über das gesamte Equipment erstreckt, sondern vor allem durch seine Haltung und den Handlungen daraus. Einerseits ausgerichtet auf das Erreichen von Topplatzierungen auf der World Tour, öffnet das Team den Radsport zugleich einem Publikum, das bisher nicht nur nichts mit der Tour de France oder anderen Monumenten des Sports zu tun hatte, sondern dem diese schlicht und einfach auch egal sind. Ein Publikum, dessen Zugang zum Rad sich nicht über Prestige und Leistung definiert, sondern das es als soziale Praxis begreift, vor allem auch als Möglichkeit, Geschichten zu erzählen, Geschichten wie etwa die des heimlichen Stars des Teams, Lachlan Morton.

"Ich liebe die Idee, einfach zu fahren": der Australier Lachlan Morton.
Foto: AFP

"Radrennen – es gibt vieles daran auszusetzen, aber es ist so etwas wie ein notwendiges Übel, um jeden Tag draußen zu sein und Rad zu fahren. Ich liebe die Idee, einfach zu fahren", erklärt Morton seinen Zugang zur Bewegung, und sein letztes Unterfangen ist ein weiteres Bekenntnis dazu. In den vergangenen Wochen folgten tausende Menschen dem australischen Rennfahrer per GPS-Tracking und immer wieder auch auf einzelnen Abschnitten seiner Alt Tour bis nach Paris. In Anlehnung an die erste Frankreichrundfahrt 1903 und parallel zur diesjährigen Tour legte Morton nicht nur dieselbe Strecke wie das Peloton zurück, sondern außerdem alle Transfers – ohne Unterstützung durch ein Team oder Ruhetage, im Ein-Personen-Zelt auf Campingplätzen entlang der Strecke übernachtend, insgesamt 5500 Kilometer und 65.000 Höhenmeter in 17 Tagen.

Alternativer Rennkalender

Was wie eine weitere Bestätigung des heroischen Gestus des Radsports wirkt, ist jedoch vielmehr Ausdruck einer tiefen Sehnsucht, einer Sehnsucht nach einem Fahren am Rad abseits der dem Sport eingeschriebenen Traditionen, Etikette und Strukturen. Eine Sehnsucht, die von Mortons’ aktuellem Team EF Education-Nippo gefördert, ja herausgefordert wird. Zusammen mit den Verantwortlichen des Teams erarbeitete Morton 2019 für sich und einige andere Fahrer einen alternativen Rennkalender, der neben dem "normalen" bestehen sollte – ein absolutes Novum im Profibereich.

Die Idee des alternativen Rennkalenders lautet, sich alle Aspekte des Radfahrens anzusehen, zu schauen, worum es dort eigentlich geht, heißt es in einem Kurzflm, der Morton auf dem GB Duro begleitet, einem selbstorganisierten Radrennen von einem Ende Großbritanniens ans andere. Ästhetisch in Watte gepackt, sind die von EF in Kooperation mit Rapha produzierten Videos und Kurzdokumentationen ein schillernder Streifzug durch die Landschaft alternativer Radrennen – Dirty Kanza bzw. seit letztem Jahr Unbound Gravel, GB Duro, Badlands, Three Peaks Cyclo-Cross, Leadville 100, Cape Epic.

Die Bilder sind ein Blick in eine Landschaft, die auf anderen Werten aufgebaut ist als der traditionelle Radsport und genau deswegen einen Nerv treffen. Sämtliche der Events sind Grassroots-Bewegungen, entstanden aus der Initiative weniger und bis heute, trotz teilweise wachsenden Interesses von Sponsoren, immer noch und vor allem eingebunden in die jeweiligen lokalen Gemeinden und Umgebungen, aus denen sie gewachsen sind. Es ist, trotz der Lust und Leidenschaft für pures Racing, vor allem ein kommunaler Gedanke, ein Gedanke aus und für eine Gemeinschaft, der all diesen Rennen zugrunde liegt und der den entscheidenden Unterschied zum traditionellen Radsport darstellt.

Ein Unterschied, der für Leute wie Lachlan Morton entscheidend ist, ein Unterschied, der einen grundlegend anderen Zugang zum Radfahren schafft, einen, der auf Öffnung und Zugänglichkeit basiert, der die Vertikalität des Profisports nivelliert, stattdessen auf kollektive Erfahrung und den Gedanken des Teilens dieser Erfahrung setzt. Rebecca Rush, einer der großen und klingenden Namen des Mountainbike-Sports, bringt es auf den Punkt, wenn sie über das Leadville-100-Mountainbike-Rennen sagt, was für all diese Veranstaltungen und Events gilt: "Die Leute, die hierherkommen, kommen, weil sie Spaß auf ihren Bikes haben. Sie wollen nur fahren. Ob sie aus einem professionellen Radteam kommen oder noch nie zuvor auf einem Rad gesessen sind, was immer es auch ist, wir alle kommen aus denselben Gründen. (...) Wir lieben es, Rad zu fahren."

"Wir sind der Wandel"

Lachlan Morton und der alternative Rennkalender von EF Education-Nippo sind Teil einer grundlegenden Verschiebung, die sich speziell im Rad-, aber ganz generell in einigen Bereichen des Ausdauersports nachvollziehen lässt. Eine Verschiebung, die, ohne Zögern und im Wissen um die Konsequenz und Implikation der Benennung, als Cultural Shift bezeichnet werden kann. Eine Verschiebung, die Räume öffnet, entstehen lässt, in Begriff und Praxis, die bisher unbesetzt waren, sowohl innerhalb der unterschiedlichen Bereiche des Ausdauersports selbst als auch in der Überschneidung mit anderen Bereichen und Disziplinen, vor allem des kritischen Diskurses.

Ein Blick etwa auf L39ION of LA macht dies deutlich. Das professionelle Radteam aus Los Angeles steht, noch wesentlich mehr als EF Education-Nippo, für diese Verschiebung. Justin Williams, einer der Gründer und Köpfe hinter L39ions sowie selbst Rennfahrer, sagt: "Wir sind der Wandel, den wir sehen wollen, und kein Wort an dieser Aussage klingt zu hoch gegriffen. Wir haben die Mission, 2021 das einzige von Schwarzen geführte Profi-Team in Amerika zu werden. Derzeit gibt es in Amerika keine schwarzen Radprofis. Wir werden das ändern und für Kinder aller Hautfarben ein Zeichen setzen."

"Zeichen sind eine Sache von Sichtbarkeit, und ‚visibility is key‘", schreibt Marie C. Wilson, zitiert unter anderem von der Autorin, Aktivistin und begeisterten Radfahrerin Jools Walker in Back in the Frame. Das Buch ist nicht nur eine Hymne an die Bewegung mit dem Rad, sondern auch eine Auseinandersetzung mit Urbanismus, Identität, Immigration, psychischer Gesundheit und damit, was Klasse mit dem Zugang zum Radfahren zu tun hat. Sichtbarkeit, Diversität und Inklusion auf sämtlichen Ebenen steht im Mittelpunkt von Teams wie L39ION of LA, Teams und Initiativen, bei denen diese Begriffe nicht als glitzernde Überschriften funktionieren, sondern gelebte Praxis sind. Eine Praxis, die eine andere, neue Richtung vorgibt, eine Richtung, in der Herkunft, Identität oder Gender nicht zu Differenz, sondern zu Emanzipation und Empowerment führen, eine Richtung, in der Ayesha McGowan 2021 nicht die erste und einzige PoC im gesamten Pro-Tour-Feld der Frauen ist, sondern eine von vielen, in der die Pro Tour der Frauen ganz generell nicht nur auf dem Papier, sondern auch in Bezahlung und medialer Reichweite jener der Männer gleichgestellt ist.

Christoph Szalay, geb. 1987, ist ehemaliger Nordischer Kombinierer im ÖSV-Kader. Studium der Germanistik in Graz sowie Kunst im Kontext an der Universität der Künste Berlin.

Eine Richtung, in der viel mehr Menschen Simone de Beauvoirs’ Memoiren einer Tochter aus gutem Hause lesen wie Margaux Vigié, Profi für das italienische Team Valcar – Travel & Service, kurz bevor sie aufs Rad steigt und auf den Straßen Flanderns Alarm schlägt.

Als Lachlan Morton vergangenen Dienstag um 5.30 Uhr in der Früh schließlich in Paris eintrifft, wartet kein Blitzlichtgewitter auf ihn. Stattdessen, wie in all den Tagen zuvor, eine kleine Gruppe Radfahrer und Radfahrerinnen, die ihn auf seiner Fahrt begleiten will. Außerdem mehr als 400.000 Euro Spenden für World Bicycle Relief. Seinen Platz im Radsport hat er mittlerweile gefunden, einen Platz, der immer häufger und von vielen aufgesucht wird: "Ich hatte lange Zeit mit dem Zweck zu kämpfen, Radprofi zu sein. Weil es extrem egoistisch ist. Du versuchst so viel wie möglich nur für dich selbst aus dem Sport zu holen. Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich diese Verbindung sehe, die die Leute haben. Sie erzählen mir, dass das, was ich mache, sie inspiriert, nach draußen zu gehen, sich aufs Rad zu setzen, etwas Neues zu probieren. Das gibt mir einen Zweck. Es macht mich so viel glücklicher mit dem, was ich tue." (18.7.2021)