Dass Großbritannien schon immer anders und speziell gewesen ist, belegt eine Tradition, die in den späten 1930er-Jahren nach drei Generationen an ihr Ende gelangte. Damals gab es auf den Britischen Inseln die schaurige, besser gesagt: die horribel schauergeschichtliche Tradition, zu Weihnachten im Kreis der Familie oder von Freunden nicht aus der Bibel vorzulesen, sondern stattdessen Geister-, Gespenster- und Schauererzählungen. Zahlreiche Autoren widmeten sich dem Weihnachtsschaudergenre.

Der bekannteste war wohl M. R. James, seines Zeichens Dozent am Eliteinternat Eton. Daneben gab es aber auch E. F. Benson, von dem jüngst der große Publikumsverlag Penguin eine Auswahl von ghost stories herausgab, Lovecraft näher denn seinem Landsmann James, oder Arthur Machen, um den sich im deutschen Sprachraum seit einem Vierteljahrhundert der Übersetzer Joachim Kalka rührig müht, oder Algernon Blackwood.

Verwandelt die klassische Geistergeschichte in etwas Neues: die in Kanada geborene New Yorker Künstlerin Leanne Shapton.
Foto: Kathy Ryan

Projektionen des Abseitigen

Es gab aber auch vergessene Schreiber wie J. H. Riddell (A Strange Christmas Game, 1863), Andrew Caldecott oder A. M. Burrage, auch wenn von Letzterem eine mehrbändige Edition seiner Geschichten lieferbar ist. In all diesen unheimlichen Erzählungen hauste das gespenstisch Unheimliche nicht nur in der Natur und auf dem Land, sondern auch – hochparanoid! – in der urbanen Wildnis. Es waren Projektionen des Abseitigen und präfreudianisch verborgener Heimlichkeiten und Unterseiten. Nicht umsonst endet beispielsweise Machens Erzählung Die Kinder des Teichs mit den Worten: "Nein, für mich ist es die ‚Geschichte‘ selbst, die seltsam und schrecklich ist, und nicht die ‚Folgen‘ sind es. Denn ich habe immer geglaubt, dass der Ort der Wunder die Seele ist."

Das Antirationale, das Überwältigende, das die Seele Sprengende. All das erzeugt Schauer, Schrecken, Horror. Geister, die auftauchen und abtreten, die Spuren hinterlassen oder, noch grausiger, Unverständliches, Rätsel, Labyrinthe, in denen sich die menschliche Ratio verläuft.

Schlägt man Leanne Shaptons neues Buch auf, so sieht man auf Vor- und Nachsatz ein dekoratives Muster aus Weihnachtskerzen und Dekor. Sie knüpft also visuell bewusst an die englische Tradition an. Was folgt, ist geisterhaft. Denn Shapton, in Kanada geborene und heute in New York lebende Illustratorin, Künstlerin und Verlegerin von Kunstbüchern, hat Fotostrecken, Found Footage, Grundrisse von Häusern, in denen Morde passierten, Aquarelle, Fotografien Namenloser und in die Anonymität abgesunkener Vergangenheiten mit kürzeren und Kurztexten zu einer Art Foto-Erzähl-Roman collagiert.

Borderline und Bizarrerien

Da gibt es Nervenzusammenbrüche begabter Sportler mit Borderline-Symptomatik, Porträts, deren Bildunterschriften Miniaturbiografien latenter Bizarrerien sind. Merkwürdige Erläuterungen scheinbar simpler Diagramme. Ängste. Neurosen. Fotografien eines schaurigen Hauses, die Tatortaufnahmen gleichen. Aufnahmen verschwundener Menschen, ausgestorbener Moden und von Leben als, so ein Kapiteltitel, "natura morta", toter Natur, Stillleben, verharzter Zeit.

Denn im Spalt zwischen verronnener Lebenszeit und dem verzweifelten Versuch, voyeuristisch die Zeit zu bannen und Vergänglichkeit aufzuheben durch Visuelles, kauert dieses Bilderbuch, durchgehend durchzogen von betörend schrecklicher Melancholie. Da gibt es ein Kapitel "Das Spukhaus", ein anderes ist "Der Geist" betitelt, zehn Seiten mit vielen Fotografien einer Party, bei der ein Mann in nachtblauem Anzug auf jeder Aufnahme auftaucht, bis es dann auf den letzten drei Seiten in Schwarz-Weiß überwechselt – und mit einer leeren Seite ausklingt.

Leanne Shapton, "Gästebuch. Gespenstergeschichten". Übersetzt von Sophie Zeitz. € 24,70 / 320 Seiten mit zahlreichen Abb. Suhrkamp, Berlin 2020

Vor zehn Jahren legte Shapton ein inszeniertes Buch vor: Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck. Sie hatte nach der Besichtigung des Nachlasses des Autors Truman Capote vor der Versteigerung eine Idee.

Wieso nicht die Objekte selber erzählen lassen? Mit 300 Bildern, auf denen man Schnappschüsse sah, T-Shirts, Bücher, Restaurantquittungen, CDs, Briefe, Anzüge, Zeitungsausschnitte und ausgedruckte E-Mails, erzählte sie einen fiktiven Roman einer Beziehung nach, gespielt von Shapton und ihrem realen Ehemann, von der ersten Begegnung über das Verlieben bis zum Auseinandergehen. Ein fotoromanzo,aufgemacht als Versteigerungskatalog, ein galliger Kommentar über die Fusion von Konsum und verschwindenden Gefühlen.

Gäste auf Zeit

Wie heißt es jetzt in Gästebuch auf Seite 85 geisterhaft: "Der Sessel glitt wie von Geisterhand über den Teppich und blieb am Fußende des Bettes stehen." Und: "Als er aufwachte und sich die Stelle ansah, wo die Gestalt in der Nacht gestanden hatte, entdeckte er einen kleinen, ringförmigen Brandfleck auf dem Teppich." Mehr war, mehr ist menschliches Leben nicht, wir sind Gäste auf Zeit. (Alexander Kluy, 17.7.2021)