Kommunikationsforscher Andreas Enzminger plädiert für einen differenzierten Blick auf Hassrede im Netz.

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Hate Speech in sozialen Medien wird in der öffentlichen Debatte als radikal verurteilt – sie muss aber nicht immer Ausdruck extremistischer Radikalisierung sein. Zu diesem Ergebnis kommt der Kommunikationsforscher Andreas Enzminger beim Vergleich links- und rechtsextremer sowie islamistischer Facebook-Seiten. Er plädiert für einen differenzierten Blick auf Hassrede, speziell wenn es um Radikalisierungsprozesse geht. Nur so könne Radikalisierungsprävention verbessert werden.

Verachtungsvokabular

Andreas Enzminger vom Institut für Kommunikationsmanagement und Medien der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien hat im Rahmen des von Jürgen Grimm (Uni Wien) geleiteten Forschungsprojekts "Kommunikationsmuster der Radikalisierung (COMRAD)" knapp 12.000 Postings öffentlich zugänglicher Facebook-Seiten linksextremer, rechtsextremer und islamistischer Gruppen untersucht. Diese analysierte er auf den vier Ebenen der Radikalisierung ("RADIX-Modell"): Systemkritik, Systemwandel, antidemokratische Haltung und Legitimation von politischer Gewalt.

"Die ersten zwei Stufen sind Ausdruck einer lebhaften politischen Debatte", erklärte der Kommunikationswissenschafter im Gespräch mit der APA. Gerade Systemkritik müsse von anderen Ebenen der Radikalisierung unterschieden werden. Nicht alles, was systemkritisch sei, führe automatisch zu einer extremistischen Haltung. Erst wenn Systemkritik mit antidemokratischer Haltung vermischt werde, sei extremistische Radikalität erkennbar.

Zur Abgrenzung der verschiedenen Typen von Radikalisierung ist laut Enzminger Sprache ein entscheidender Faktor. Alle untersuchten extremistischen Gruppen verwenden in einem Drittel ihrer Postings Hass- und Verachtungsvokabular. Dies allein sei aber noch kein Ausdruck von Extremismus.

Obszön und harsch

"Der Begriff Hate Speech ist inzwischen schon sehr ausgefranst", so Enzminger. Die Studienergebnisse würden eindeutig zeigen, dass ein gravierender Unterschied darin bestehe, ob gewisse Gruppen lediglich mit obszönen und harschen Begriffen belegt oder sprachlich herabgewürdigt werden. "Erst exkludierende Ausdrücke oder Entmenschlichungen zeigten eindeutige Zusammenhänge zu extremistischen Haltungen. Reine Hassrede konnte diese Verbindungen nicht aufzeigen."

Zur Prävention von Extremismus sei es wichtig, einen differenzierten Radikalisierungsbegriff zu etablieren, um zu erkennen, wer noch abgefangen werden könne, meint Enzminger. Dafür müsse man beachten, dass beim Prozess der Radikalisierung viele verschiedene Faktoren hineinspielen.

Um die Ressourcen zur Extremismusbekämpfung gut einteilen zu können, sei es neben einem differenzierten Blick auf Hate Speech wichtig, die Erklärungsmodelle von extremistischen Gruppen zu verstehen. Als Beispiel nennt Enzminger rechtsextreme Gruppen, deren Vermittlung von Inhalten "auf Legitimation und Begründbarkeit" basiere. Es werde versucht, mit umfangreichen komplexen Texten und scheinbar logischen Zusammenhängen zu arbeiten. "Rechtsextreme Erklärungsmodelle sind schon lange nicht mehr eindimensional, plump und unterkomplex. Es braucht neue Erklärungen neben Bildungsferne und einer niedrigen sozialen Stellung", sagte der Wissenschafter. Präventive Maßnahmen könnten nur mit einer Widerlegung extremistischer Modelle auf Augenhöhe funktionieren.

Alternativen suchen

Zur Extremismusprävention sei es auch wichtig, emotionale Faktoren im Radikalisierungsprozess nachzuvollziehen. Moralische Empörung sei in allen drei untersuchten Gruppen der entscheidende Ausdruck von Radikalität. Aber für Enzminger darf "Moral nicht mit Moral bekämpft werden. Moralische Ächtung führt in eine Sackgasse."

Da Moral und Lebenssinn entscheidende Faktoren darstellen würden, sei es wichtig, in der Präventionsarbeit Alternativen zu angeblich sinnstiftenden radikalen Tätigkeiten zu schaffen. Der Wissenschafter sieht in alternativen Identitäts- und Zugehörigkeitsangeboten einen weiteren Ansatzpunkt, um insbesondere für Jugendliche Alternativen zu schaffen, sodass diese gegen extremistische und radikalisierende Anwerbeversuche "geimpft" werden bzw. abwehrend reagieren. (APA, 19.7.2021)