Jedes Jahr werden Millionen neue Bücher geschrieben. Können Algorithmen künftig bei der Auswahl helfen?

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Lisa ist eine Hochgeschwindigkeitsleserin: Ob Isabel Allendes Erfolgsroman "Ein unvergänglicher Sommer", Umberto Ecos "Der Name der Rose", oder J. K. Rowlings "Harry Potter"-Teile – in weniger als 60 Sekunden hat sie jeden dieser Romanklassiker verschlungen. Wirklich verstehen kann Lisa die Bücher und Wörtern darin nicht. Dafür aber soll sie vorhersagen, ob die Romane das Zeug zum Bestseller haben – und Verlagen und Autoren damit zum finanziellen Erfolg verhelfen.

Dass Lisa kein Mensch ist, müsste bis jetzt klar sein. Hinter dem Namen verbirgt sich die Bezeichnung Literatur-Screening und Analytik. Und das ist es auch, was die Software macht: Sie zerlegt Romane in einzelne Bestandteile, vergleicht sie mit anderen Werken und spuckt am Ende dutzende Grafiken und Zahlen aus, die die Werke in all ihren Facetten vermessen sollen.

Ableitungen treffen

Hinter dem Projekt stehen die deutsche Kulturwissenschafterin Gesa Schöning und der promovierte Mathematiker Ralf Winkler. Schöning stammt aus einer Buchhändlerfamilie aus Lübeck, im Studium beschäftigte sie sich mit der Bestsellerforschung, bei der bestimmte Muster in erfolgreichen Büchern analysiert werden. 2017 gründete sie in Deutschland mit Ralf Winkler das Unternehmen Qualifiction, zu dem Lisa gehört.

"Ich dachte, dass es technisch möglich sein muss, aus all den bereits existierenden Büchern bestimmte Ableitungen zu treffen", sagt Schöning zum STANDARD. Zwar gebe es nicht die eine Formel, die ein Buch zum Bestseller macht, dafür aber viele Bestandteile, die relevant seien: etwa welche Themen vorkommen, wie der Sprachstil ist, wie sich die Stimmung im Buch verändert, welche Charaktere es gibt, oder wie neuartig das Genre und die Thematik sind.

Tausende Romane als Basis

Diese Faktoren soll auch Lisa analysieren. Als Basis dienen dem Programm tausende Texte und Romane, die laufend aktualisiert und erweitert werden und anhand derer die Software lernen soll, so Schöning. Damit die Software beispielsweise die Stimmung in einem neuen Buch erkennen kann, greift sie auf tausende Sätze von bisherigen Romanen zurück, die zuvor von Menschen hinsichtlich ihrer Stimmung ("positiv", "negativ", "neutral") gelabelt wurden.

Auch aktuelle Literaturtrends sollen in die Bewertungskriterien der Algorithmen einfließen, beispielsweise, ob Genres wie Fantasy, Krimis oder Heimatromane gerade boomen oder nicht, welche Themen und Figuren in Büchern gerade beliebt sind und wie sich das Leserverhalten verändert. "In vielen neueren Büchern werden die Kapitel und Sätze immer kürzer", sagt Schöning – ein Trend, den die 35-Jährige mit dem großen Unterhaltungsangebot der aktuellen Zeit in Verbindung bringt. "Mit einem nächsten Tolstoi wären viele Menschen wahrscheinlich überfordert."

Keine Bewertung für Literaturnobelpreis

Ist Lisa nach maximal 60 Sekunden mit der Analyse des Textes fertig, fließen die Faktoren in unterschiedlichen Grafiken, Zahlen und Statistiken zusammen. Fragen wie etwa, worum es inhaltlich in dem Buch geht, welche und wie viele Leser damit voraussichtlich angesprochen werden, wie neuartig es ist und wie es im Vergleich zu anderen Bestseller-Romanen dasteht, sollen damit beantwortet werden.

"Das ist keine Bewertung für die Chance auf den Literaturnobelpreis", betont Schöning. Denn nur weil ein Buch bei der Analyse schlechter abschneidet, bedeute das nicht, dass es qualitativ schlechter sei. Vielmehr soll die Software Aufschluss darüber geben, ob das Werk wirtschaftlich erfolgreich sein kann. Autorinnen und Autoren sollen eine Einschätzungen erhalten, mit welcher Leserschaft sie bei ihrem Buch rechnen dürfen und Tipps und Feedback für Verbesserungen bekommen. Verlagen wiederum soll die Software einen schnellen Überblick über das vorgelegte Werk liefern, um zu sehen, ob es in das eigene Programm und die Zielgruppe passt.

Leidet die Vielfalt?

Das Szenario, das Schöning mit ihrer Software entwirft, klingt im ersten Moment nicht gerade einladend: Bestimmen künftig nicht mehr menschliche Verleger, sondern auf wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtete Algorithmen, welche Bücher es in die Regale der Geschäfte schaffen? Was bedeutet das für die Qualität und Vielfalt gegenwärtiger und künftiger Literatur, wenn sich Autorinnen und Autoren in ihren Texten nur noch daran orientieren, ob ihr Werk den Massen am Markt gefällt? Und kann es überhaupt noch Bestseller geben, wenn plötzlich alle Verlage nur mehr auf dieselben Algorithmen setzen, um neue Bestseller zu publizieren?

Schöning kennt die Kritik – und weiß zu kontern. Tatsächlich soll die Software Vielfalt und Qualität sogar fördern, anstatt diese zu reduzieren. "Viele Verlage sind wenig risikofreudig, setzen eher auf bekannte Autorinnen und Autoren, die ähnliche Themen und Bücher schreiben, wie es sie bereits am Markt gibt", sagt Schöning, die selbst in einer Buchhandlung tätig war.

Wenig Chance für unbekannte Autorinnen

So würden nach einem bestimmten Bucherfolg, wie etwa "Harry Potter", über Jahre hinweg Bücher zu ähnlichen Themen oder von ähnlichen Autoren oder Autorinnen erscheinen. Autorinnen und Autoren, die sich noch keinen Namen in der Öffentlichkeit oder bei den Verlagen gemacht haben, hätten hingegen oftmals keine Chance, von den Verlagen akzeptiert zu werden, so Schöning.

Indem die Software neuartige Zugänge oder Themen in Texten von unbekannten Autorinnen und Autoren innerhalb kürzester Zeit aufspürt und für Verlage aufzeigt, soll damit mehr Autorinnen und Autoren eine Chance gegeben werden, sagt Schöning. Verlage hätten nach wie vor die Möglichkeit, sich gegen die Einschätzung des Programms zu entscheiden, ebenso wie sich Autorinnen und Autoren nach der Analyse auch dagegen entscheiden könnten, für eine größere Leserschaft zu schreiben, sagt sie.

Spotify für Bücher

Um die Fähigkeit der Software zu testen, die Vielfalt in der Literatur zu fördern, habe Schöning einen eigenen Verlag gegründet, der sich bei der Literaturauswahl auf das Programm stützt. Die Bücher, die so ausgewählt wurden, würden bereits eine große Bandbreite von Themen und Autorinnen und Autoren abdecken, sagt sie.

Schöning plant aber noch weiter. In den nächsten Monaten will sie Lisa zu einer Plattform ausbauen, auf der sich Verlage und Autorinnen und Autoren vernetzen können. Auch für Leserinnen und Leser soll es bald eine Plattform geben, auf der Bücher je nach individuellen Vorlieben vorgeschlagen werden – ähnlich wie es im Musikbereich Spotify bereits macht. Dieses sogenannte Bücher-Matching könnte eines Tages auch in Buchhandlungen selbst integriert sein, glaubt Schöning. "Das soll vor allem kleinen Buchläden, abseits von Amazon, wieder mehr Leben einhauchen." (Jakob Pallinger, 24.7.2021)