Es ist ein enges Rennen zwischen Lewis Hamilton und Max Verstappen. Erstmals muss der Engländer gegen den Niederländer alle Register ziehen.

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Hamilton feierte überschwänglich – zu viel für Verstappens Geschmack.

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Ayrton Senna war ein begnadeter Rennfahrer – und ein richtiger Sturschädel. Als der Brasilianer 1990 im Grand Prix von Japan in Suzuka mit einer halben Wagenlänge Rückstand auf Alain Prost in die erste Kurve fuhr, provozierte er im McLaren ruhigen Gewissens einen Buserer. Heute würde dieses Manöver nie und nimmer als Rennunfall durchgehen. Damals, als der Sport noch nicht überreglementiert war, wurde Senna zum Weltmeister erklärt und die ein oder andere Flasche Schampus geköpft. Thema erledigt.

Erhöhtes Risiko

Senna war für Lewis Hamilton immer ein Vorbild. "Superman oder Senna, einer von beiden wollte ich sein", hat der siebenfache Weltmeister einst gesagt. Superman ging sich nicht aus, also wurde Hamilton eine Art Senna. Und so wie der 1994 verstorbene Champion möchte auch der Engländer seinen Kontrahenten in einem unterlegenen Boliden mit allen Mitteln die Stirn bieten.

Sein Mercedes kommt mit dem Red Bull von Max Verstappen nicht ganz mit – das haben die vergangenen Rennen gezeigt. Um dieses Defizit zu kompensieren, erhöht Hamilton das Risiko. Anders lässt sich sein Überholvorgang in Silverstone kaum interpretieren. Es wird nicht mehr zurückgesteckt. Überspitzt formuliert: Pokal oder Spital. Ergebnis im Grand Prix von Großbritannien: Pokal für Hamilton, Spital für Verstappen.

Mit Absicht hat Hamilton den Zusammenstoß im "Home of British Motor Racing" bestimmt nicht herbeigeführt. Das würde schon angesichts der Ausgangslage und des Risikos eines Ausfalls keinen Sinn ergeben. Grenzwertig war das Manöver allemal. Bei der Anfahrt auf die 290 km/h schnelle Copse-Kurve reitet man nicht unbedingt eine Attacke auf der Innenseite. Verstappen drehte sich durch eine Reifenberührung von der Strecke und schlug mit 51 G in die Reifenstapel ein. Der Niederländer blieb unverletzt, das kann auch schlimmer ausgehen.

Hamilton wurde für sein "überwiegend schuldhaftes" Verhalten von der Rennleitung eine Zeitstrafe von zehn Sekunden aufgebrummt. Red Bull Racing war ob des Unfalls erzürnt. Hamilton sei "fahrlässig", "gefährlich" und "rücksichtslos" gefahren. Teamchef Christian Horner schäumte: "Lewis ist ein siebenfacher Weltmeister, der einen verzweifelten Move gemacht hat. Das war eine schlimme Fehleinschätzung. Ich denke nicht, dass er diesen Sieg wirklich genießen kann."

Dies wiederum war eine Fehleinschätzung von Horner. Hamilton genoss seinen 99. Sieg in vollen Zügen: "Ich denke nicht, dass ich mich entschuldigen muss." Mercedes-Teamchef Toto Wolff goss noch etwas Öl ins Feuer: "Wenn du hinten liegst, musst du alle Waffen in deinem Arsenal schärfen." Ja, so hören sich Kampfansagen an.

Vor 140.000 Fans schwenkte Hamilton genüsslich den Union Jack, er feierte ausgelassener als üblich – das wiederum mochte Verstappen, ansonsten nicht zimperlich, ganz und gar nicht schmecken. "Sich die Feiern anzusehen, während man im Krankenhaus ist, ist respektlos und unsportlich", richtete der Niederländer über die sozialen Medien aus.

Sosehr Mercedes und Red Bull Racing nach dem großen Knall auf der Strecke entzweit sind, so vereint treten die beiden Rennställe im Kampf gegen Diskriminierung auf. Hamilton wurde nach dem Rennen im Internet rassistisch beleidigt. Der Weltverband Fia, die Formel 1 und Mercedes reagierten daraufhin mit einer gemeinsamen Stellungnahme. "Wir verurteilen dieses Verhalten auf das Schärfste", hieß es, "diese Leute haben keinen Platz in unserem Sport."

Geschmolzener Vorsprung

Red Bull schloss sich an. "Wir verurteilen rassistische Beleidigungen jeglicher Art", erklärte der Rennstall. "Als Team sind wir angewidert und traurig über die rassistischen Beschimpfungen, die Lewis gestern ertragen musste." Dafür gebe es keine Entschuldigung, die Urheber müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Zuletzt wurden in England nach den rassistischen Beleidigungen gegen die Fußball-Nationalspieler Bukayo Saka, Jadon Sancho und Marcus Rashford mehrere Personen festgenommen.

Der Vorsprung von Verstappen auf Hamilton ist auf acht Punkte geschmolzen. Die Vorfälle von Silverstone haben das Interesse am WM-Duell sicher angekurbelt. In zwei Wochen steht der Grand Prix von Ungarn an, bis dahin sollten sich alle Beteiligten abgekühlt haben. Hamilton zückte vier Stunden nach Rennende via Twitter die Friedenspfeife: "Heute wurden wir daran erinnert, wie gefährlich dieser Sport ist. Ich wünsche Max alles Gute. Er ist ein unglaublicher Gegner. Ich bin froh, dass es ihm gutgeht." (Philip Bauer, 19.7.2021)