Großflächige monumentale 3D-Grafiken spannen sich über die Körper.

Foto: AFP / Michael Ioccisano

Eine Freundin von mir hat sich vor kurzem ein neues Tattoo stechen lassen. Es ist ihr sechzigstes. Inzwischen sieht ihr Körper aus wie ein alter Reisekoffer – alt, im Sinne von gelebt und gewachsen. So gesehen passt diese mit allerlei Zeichen geschmückte Haut genau zu ihr: Auch meine Freundin hat in ihrem Leben bereits unzählige Stürme und Reisen gemeistert.

Alltag unter Avataren

Im starken Gegensatz dazu stehen die großflächigen Tätowierungen, wie man sie aktuell im Supermarkt, im Schwimmbad und in Gastgärten zu sehen bekommt: Was sich hier über junge Hälse, Schultern, Armlängen und Schenkel spannt, das sind keine Kurzgeschichten.

Es sind Kelten- und Gothic-Welten, eingebunden in monumentale 3D-Grafiken. Immer öfter stehe ich als Tattoo-freier Mensch in der Warteschlange vor der Kassa, um mich herum tanzen Runen, Totenköpfe, Avatare und flammende Schwerter. Immer öfter fühle ich mich dabei wie der langweilige Anfangsgegner in einem Computerspiel wie Warcraft, Hitman oder Resident Evil.

Gefährlich ungefährlich

Wir wissen: Ötzi hatte Tattoos und Kaiserin Sisi auch. Später hauptsächlich Matrosen und Verbrecher. Heute will sich auch der Normalbürger als Vollzeitgangster inszenieren: Inzwischen sieht jeder zweite Stromableser und Bobo-Jungvater aus wie einer, der auf sechs Planeten lebenslänglich ausfasste.

Als Stilbeobachterin würde man solche Tattoo-Könige gerne zur Seite nehmen und ihnen zuraunen: "Mit deinem treuherzigen Hundeblick und deiner maximal ungefährlichen Hipster-Brille wirst du nie gefährlich aussehen. Auch nicht mit deinem eingravierten Perserteppich aus Schlangen und Blitzen auf der Brust."

Mein Freund, der Fotograf – selbst Träger einiges originellen Johann-Sebastian-Bach-Tattoos – bemerkte dazu lakonisch: "Ständig begegnet man Frauen und Männern, die aussehen wie satanische Rockstars. Aber in Wirklichkeit sind sie bloß CEO oder CD irgendeines Start-ups für originelle Sandwiches."

Sexy Tattoo

Der deutsche Soziologe Alois Hahn beschreibt das Tätowieren als "Technik des Selbst". Wer sich beschrifte, teile sich zugleich als Skulptur und als sein eigener Bildhauer mit. Selbstoptimierung, okay. Dringend abzuraten ist allerdings, sich in Sachen Liebe und Erotik an die Nadel zu hängen.

Wie reagiert man, wenn auf dem Unterbauch des neuen Sex-Partners "My love, Traude" steht? Muss man freudig überrascht sein, wenn sich in ihrer Bikinizone Schmetterlinge paaren? Alles kein Witz, übrigens. Ich kenne die Namen der erwähnten Personen. (Ela Angerer, RONDO, 26.7.2021)