Unter den deutschen Spitzenpolitikern war Angela Merkel die einzige Ostdeutsche, eine von sehr wenigen Frauen sowie eine Naturwissenschafterin unter Juristen.

Foto: imago images

Neun Wochen vor der deutschen Bundestagswahl und vor dem Ende ihrer vierten Amtsperiode ist Bundeskanzlerin Angela Merkel noch in vollem Einsatz. Sofort nach ihrer Rückkehr aus Washington, wo sie als erste ausländische Regierungschefin mit US-Präsident Joe Biden verhandelt hatte, begab sie sich in die von der Hochwasserkatastrophe verwüsteten Gebiete.

Indessen wurde die seit sechzehn Jahren regierende Kanzlerin Monate vor der Angelobung ihres Nachfolgers (oder ihrer Nachfolgerin) bereits in der vergangenen Woche durch eine fünfteilige fünfstündige RTL-Dokumentation und mit der Veröffentlichung der bisher aufschlussreichsten, glänzend geschriebenen, 800 Seiten langen und vom FAZ-Redakteur Ralph Bollmann verfassten Biografie als eine historische, Deutschland prägende und die Weltpolitik mitbestimmende Persönlichkeit kritisch, nüchtern und zugleich anerkennend gewürdigt.

Man kann ohne Vorbehalt dem letzten Satz dieser einfühlsamen und differenzierten Biografie zustimmen: Einiges deute darauf hin, dass sich viele Menschen nach ihrer bei allen Schwächen vernunftgeleiteten Politik, nach der von Merkel verkörperten beruhigenden Wirkung in den unruhigen Zeiten, für Deutschland und weit darüber hinaus, nach dieser Stabilität bald zurücksehnen werden.

Bei der Trauerfeier für einen ihrer Amtsvorgänger, den Sozialdemokraten Helmut Schmidt, im November 2015 sprach die damals seit zehn Jahren amtierende Kanzlerin (so die wohl zutreffende Feststellung des Biografen) eigentlich über sich selbst. Sie lobte den "nüchternen Pragmatismus" Schmidts und seine Überzeugung, dass "eine Entscheidung nur dann reif zu fällen war, wenn sie vorher durchdacht und mit Vernunft durchdrungen war. Die Leistungen dieses Bundeskanzlers zeigten sich in den Krisen, die er zu bewältigen hatte."

All das gilt auch für die sechzehn Jahre ihrer Amtszeit. Die Pastorentochter aus der DDR, die erst im Alter von 36 Jahren nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur von der promovierten Physikerin zur Politikerin im vereinigten Deutschland werden konnte, musste sich als Krisenmanagerin in den Finanz-, Euro-, Ukraine-, und Flüchtlingskrisen und zuletzt bei der Bewältigung der zuvor kaum vorstellbaren Folgen der Corona-Pandemie bewähren.

Bei ihrer Blitzkarriere sollte auch ihre oft übersehene Rolle einer dreifachen Außenseiterin bedacht werden: Unter den deutschen Spitzenpolitikern war sie die einzige Ostdeutsche, eine von sehr wenigen Frauen und eine Naturwissenschafterin unter den Juristen. Politik war trotz ihrer Erfolge bei der Abwehr aller Gegner aus der eigenen Partei kein wertfreies Taktieren nur des Machterhalts und der Machtverwaltung wegen. Dank ihrer konsequenten Abgrenzung gegenüber allen Formen des Rassismus und Antisemitismus wurde sie von der New York Times nach der Wahl Donald Trumps als "die letzte Verteidigerin des freien Westens" gerühmt.

Merkels sachliche, ruhige und unaufgeregte Haltung und ihr Bekenntnis zum Wert des Kompromisses in allen Krisensituationen trugen weit über Deutschland hinaus zu ihrer persönlichen Autorität in der internationalen Politik und zur wachsenden Bewunderung bei der liberal-grünen Öffentlichkeit bei. (Paul Lendvai, 19.7.2021)