Anri Sala, 1974 in Tirana geboren, lebt in Berlin.

Wolfgang Stahr

Roadmovie à la Anri Sala: Zu Strawinskys "Elegie für Viola Solo" kriecht eine Weinbergschnecke einen Bratschenbogen empor.

Anri Sala

Ronald McNair war einer der ersten afroamerikanischen Astronauten der Nasa, er war außerdem ein leidenschaftlicher Saxofonspieler und wollte als erster Musiker überhaupt ein Stück im Weltall einspielen. Doch das Vorhaben scheiterte tragisch, am 28. Jänner 1986 explodierte das Spaceshuttle Challenger nur 73 Sekunden nach dem Start, alle sieben Insassen starben, darunter auch McNair.

Am anderen Ende des Referenz-Spektrums steht der Komponist Olivier Messiaen, der 1941 in einem deutschen Kriegsgefangenenlager sein Quartett für das Ende der Zeit komponierte. Dessen dritter Satz Abgrund der Vögel für Klarinette erklingt nun im obersten Geschoß des Bregenzer Kunsthauses und geht einem nicht nur in musikalischer Hinsicht unter die Haut.

Klangbilder

Denn die mehrkanalige Videoinstallation Time No Longer von Anri Sala zeigt eine postapokalyptische Szenerie: Durch eine menschenleere Raumstation schwebt ein alter Plattenspieler, rätselhafte Erschütterungen lassen den Tonarm immer wieder ziellos ins Leere fuchteln, dann und wann fällt die Nadel mit einem Donnergrollen zurück in die Rille.

Visuelles und Akustisches verschmelzen in den Videoinstallationen des 1974 im albanischen Tirana geborenen und heute in Berlin lebenden Künstlers Sala zu poetischen Klangbildern, die immer wieder aufs Neue das Verhältnis zwischen Raum und Zeit ausloten. Bei Time No Longer gelangt man außerdem auch an die Grenzen zwischen Realem und Irrealem, handelt es sich dabei doch um ein komplett computergeneriertes Video.

Politische Untertöne

Die Beschäftigung mit historischen Musikstücken birgt bei Anri Sala, dessen ursprünglich für 2020 geplante Schau in Bregenz Corona-bedingt um ein Jahr verschoben werden musste, nicht selten subtile politische Untertöne. 2013 vertrat er Frankreich auf der Venedig-Biennale mit einer Arbeit über Maurice Ravels Klavierkonzert für die linke Hand, es entstand 1929 für den Pianisten Paul Wittgenstein, der im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren hatte. Die Anfang der 1990er-Jahre zu trauriger Berühmtheit gelangte "Sniper Alley" in Sarajevo verknüpfte er in einer anderen Videoinstallation mit Tschaikowskys Pathétique.

In Bregenz wiederum ist mit If and Only If eine von Salas bekanntesten Videoarbeiten zu sehen, die mit Poesie und auch ein wenig Pathos den Weg einer Weinbergschnecke auf einem Bratschenbogen verfolgt: Das Tier bestimmt dabei auch die Interpretation von Strawinskys Elegie für Viola Solo, gespielt vom französischen Star-Bratschisten Gérard Caussé. Er habe, so der Künstler beim Pressegespräch in Bregenz, bei dieser Arbeit an eine Art Roadmovie gedacht.

Sound der Verfolgung

Ungleich politischer wird es dagegen in H(a)unted in the Doldrums, die Installation beschäftigt sich mit der Verfolgung von Menschen mit Albinismus in Tansania: Eine schwarz geflämmte Snare Drum hängt kopfüber im Treppenhaus, nicht die Trommelstöcke bestimmen hier den Rhythmus, sondern reagieren ihrerseits auf akustische Impulse aus einem Lautsprecher, über den eine Stimme zu hören ist, die die Namen von 27 Opfern vorliest.

Man hört diesen unheimlichen Sound der Verfolgung des "Anderen" bis ins zweite Obergeschoß hinein, das auf den ersten Blick so wirkt, als sei es beim Aufbau der Ausstellung vergessen worden. Vollkommen leer und verlassen erwartet einen dieser Raum, man ist mit nichts anderem als den puren Betonwänden des ikonischen Zumthor-Baus konfrontiert, auf den nahezu alle ins Kunsthaus eingeladenen Künstlerinnen und Künstler auf die eine oder andere Art reagieren. Doch selten geraten Kunst und Architektur dabei in so faszinierenden Einklang wie in diesem Fall.

Vermeintliches Nichts

Das vermeintliche Nichts entpuppt sich bei genauerem Hinsehen nämlich als trügerische Angelegenheit, immer wieder scheint der Raum zu verschwimmen und sich seltsam zu verflüchtigen, um dann wieder völlig klar zu werden.

Sala hat ihm eine zweite Haut in Form einer Videoprojektion verpasst, die – einer speziellen Musikpartitur folgend – sich in Momenten der Stille in Unschärfen auflöst. Ein raffinierter visueller Schwindel, der einen auch körperlich schwindlig werden lässt, während ganz unten im Erdgeschoß eine historische Tapetendruck-Walze ein zweites Leben als Musikinstrument erhielt. (Ivona Jelčić, 20.7.2021)